Clemens Meyer, Volker Braun, Christa Wolf, Hans Christoph Buch, Peter Schneider, Judith Hermann, Christoph Meckel. Diese Schriftsteller haben aus ihren Büchern gelesen im Uwe Johnson-Salon. So heißt der Frühstücksraum des Literaturhotels in Berlin Friedenau. Dem beschaulichen Kiez, in dem Literatur einen ausgezeichneten Nährboden fand. Erich Kästner, Uwe Johnson und Günter Grass wohnten in der Niedstraße, Max Frisch in der Sarrazinstraße, Herta Müller in der Menzelstraße und Hans-Magnus Enzensberger in der Fregestraße. Fregestraße 68, das ist auch die Adresse des Literaturhotels.
Literatur ist allgegenwärtig in diesem aus der Zeit gefallenen Hotel, das vom Parterre bis hin zum Obergeschoss mit handverlesenen Biedermeier-Möbeln, Kronleuchtern und gerahmten Spiegeln ausgestattet ist und in dem die Fernsehgeräte in den Zimmern beinahe wie störende Fremdkörper erscheinen. Kein Zimmer gleicht dem anderen, alle sind individuell eingerichtet. „Im Hotel Adlon Unter den Linden sind ja auch Biedermeier Möbel, aber da ist kein einziges Stück echt. Die sind alle nachgearbeitet und haben eben auch nicht dieses Flair“, erzählt Christa Moog, die das Hotel 2003 übernommen hat. „Wir haben die Möbel zum Teil auf Auktionen in Schweden gekauft. Dort gab es ja keinen Krieg und so haben sich viele solche Möbel erhalten, und die waren zu dieser Zeit ja auch erschwinglich. Ich könnte da stundenlang drüber erzählen“, schwärmt sie. Eigentlich will sich die 73-Jährige aus dem aktiven Hotelmanagement zurückziehen, aber bislang merkt man nicht viel davon, abgesehen von wenigen Auszeiten, die sie sich gönnt. Fast wundert man sich schon, dass auf dem Schreibtisch ein Computer-Bildschirm steht. Rechts davon ist eine Wand mit zahlreichen Schriftsteller-Porträts der Blickfang.
Die Chefin kümmert sich gleichzeitig um fast alle und alles: nimmt Buchungen entgegen, sorgt dafür, dass jeder Gast beim Frühstück auch Sonderwünsche erfüllt bekommt. Dafür geht sie auch noch mal schnell zu Edeka schräg gegenüber. Überhaupt gibt es hier kein überbordendes Büffet, sondern es wird nach Bedarf nachgelegt, auf dass nicht allzu viel im Müll lande. Belauscht man Gespräche an der Rezeption, fällt auf: Hier gibt es Stammgäste, mit denen die Hotelchefin mehr verbindet als professionelle Freundlichkeit. Christa Moog bringt Menschen zusammen. Im besten Fall entsteht ganz schnell eine Vertrautheit: Als wir zum zweiten mal in einem Jahre im Hotel ankommen, fragt sie uns bei der Ankunft: „Waren wir nicht per Du?“ Äh, nein. Eigentlich nicht. Ein paar Tage nach unserer Abreise sind wir es. „Ich rede gern mit den Gästen“ ist ihr Credo. Manchmal hält sie Gedanken solcher Gespräche in Notizen fest.
Christa Moog, die Schriftstellerin, in Kürze: 1952 in Schmalkalden in Thüringen geboren, studierte sie nach dem Abitur Germanistik und Sport, arbeitete danach als Lehrerin, als Kellnerin, Verkäuferin und sogar Reinigungskraft. Sie beginnt zu schreiben. Sie verlässt die DDR 1984. „Als ich im Westen war, war ich total glücklich und fasziniert von den Möglichkeiten. Ich konnte reisen und mich mit Literatur beschäftigen, die Welt stand mir offen und ich konnte Englisch lernen und Katherine Mansfield im Original lesen. Das war ein wahnsinniges Geschenk“, erzählt sie. Ihr Buch „Aus tausend grünen Spiegeln“ wird denn auch zur Hommage an ihr Vorbild Katherine Mansfield. Dafür wird sie mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet, Marcel Reich-Ranicki spendet Lob. Ganz anders ist die Kurzgeschichtensammlung „Die Fans von Union“, eine literarische Abrechnung mit der Tristesse und Dumpfheit, der Gewalt und Ausweglosigkeit des DDR-Alltags. Suff, Verwahrlosung, Verfall, Selbstmord. „Demut vor dem Alltag“, befindet ein Kritiker der FAZ. Was immer das auch heißen mag.
Das Schreiben liegt auf Eis, als sie mit ihrem Ehemann in dessen Heimat Schweden zieht. „Wir hatten dort so eine Art Bed & Breakfast. Das war sehr viel Arbeit, und wir konnten nicht so recht davon leben. Die Sommer in Schweden sind sehr kurz. Die Saison dauert gerade mal zweieinhalb Monate.“ Die Erfahrung hilft immerhin, als sie nach Berlin zurückkehrt und das Hotel in Friedenau übernimmt. Nach einem erfolgreichen Start kommt 2006 die Krise. Neue Hotels am Hauptbahnhof locken mit Dumpingpreisen. Was tun? Eine Freundin hat die Idee, gezielt auf den Namen und den Inhalt Literaturhotel zu setzen. „Erst dachte ich, das können wir nicht machen, das klingt ja gar nicht. Irgendwie haben wir das dann doch beschlossen“. Sie reaktiviert Kontakte zu Schriftstellern, gestaltet die Wand hinter der Rezeption neu. „Da war diese hässliche ockergelbe Fliesenwand – wie in einem Schwimmbad. Wir haben Fotos zusammengesucht von namhaften Autoren“. Das Literaturarchiv Marbach und die Fotografin Renate von Mangoldt – spezialisiert auf Schriftstellerporträts – helfen bei der Beschaffung. Seit Dezember 2007 ist der Name „Literaturhotel“ offiziell. Zum Auftakt organisiert Christa Moog eine Lesung mit Christoph Meckel, der lange in Friedenau gelebt hatte. „Ich hatte so Herzklopfen, aber er hat tatsächlich sofort zugesagt. Wir hatten keine Erfahrung damit, wir haben nur ein paar Zettel ausgehängt und die Leute sind in Scharen gekommen. Er hat mit ganz leiser Stimme gelesen und das Publikum hat mucksmäuschenstill zugehört. Die Zeitungen wurden aufmerksam, und das hat sich auch ein bisschen ausgewirkt auf die Gästezahlen.“
Christa Wolf hat im Uwe Johnson-Salon gelesen, ein Jahr vor ihrem Tod. „Sie war schon sehr krank und alle Welt wollte sie sehen. Sie hat aus ihrem letzen großen Roman ‚Stadt der Engel‘ gelesen. Es war Winter, es war so glatt draußen, und als erstes hat sie uns getadelt, dass wir nicht gestreut hatten. Recht hatte sie.“ Günter Grass hat mehrmals im Hotel logiert, als er bereits in Lübeck lebte, wenn sein Friedenauer Domizil von der Familie belegt war. „Er hat meistens draussen gesessen und seine Pfeife geraucht. Er mochte nicht so gern angesprochen werden. Man hat gespürt, das er gerne seine Ruhe haben wollte. Das haben wir respektiert“.
Christa Moog hat immer Wert darauf gelegt, ausschließlich Autoren einzuladen, die sie selbst „richtig gut“ fand. So schwärmt sie von Clemens Meyer, dessen Erzählungen sie besonders beeindruckend fand. Wir erzählen von einer Veranstaltung in Weimar, bei der wir Meyer im Gespräch mit Marion Brasch erlebt haben. „Die Marion Brasch kenne ich auch sehr gut“, erzählt sie. „Ich kannte auch ihre Brüder Thomas und Peter. Mit Peter Brasch war ich noch besser bekannt, der hat am Theater in Eisenach gespielt“.
Fast jeden Tag entdecken wir gemeinsame Interessen. Wir haben eine Ausstellung im Kunstmuseum Fotografiska besucht, mit Fotografien von Helga Paris. Fast hätten wir es geahnt: Christa Moog war mit Helga Paris befreundet. Jener großen Bild-Erzählerin, deren Werk den grauen DDR-Alltag in eindringlichen Schwarzweiß-Fotos festgehalten hat. Mitte der 1980er-Jahre dokumentierte sie den baulichen Verfall der Innenstadt von Halle und deren Bewohner. Eine für 1986 geplante Ausstellung „Häuser und Gesichter. Halle 1983–1985“ in einer Hallenser Galerie wurde wenige Tage vor der Eröffnung abgesagt, da ihre Bilder zu offensichtlich die verfehlte Wohnungspolitik in Halle zeigten. Moog zeigt uns die Bilder, für immer nachschlagbar im Band „Diva in Grau“. Einige Texte hat sie zu dem Bildband beigetragen. Ich muss gestehen, dass das Buch seit einem Jahr in unserem Regal steht, aber ich ihre Texte bisher übersehen habe. „Naja, das sind ja nur kleine Texte“, meint sie bescheiden. Einer davon heißt „Der Blick aus meinem Fenster“: Wenn ich will, kann ich ihn sehen: Den Hof zum Im-Kreis-Laufen. Reihen von Stacheldraht übereinander, vorn im Flutlicht ein neues Gebäude – was mag es sein – und ich kann sie sehn (nur Hecken, Vögel, 2 Maueren dazwischen), in ihren schwarzen Anstaltsmänteln. Sie rauchen, haben sich eingehakt, sind angetreten zum Appell morgens um fünf, wenn ganz Halle nach Schwefel stinkt. Vergraute Wäsche liegt auf der Wiese, wie Zeichen für den Himmel. Sie stehn in den Fenstern, haben die Hände auf ihren Brüsten hinter den Stäben.
Wir kommen wieder einmal gegen Mitternacht ins Hotel zurück, leicht überfordert vom Berliner Kulturleben und angeregten Gesprächen mit Freunden. An der Rezeption brennt noch Licht. Sie hat gerade die letzten Buchungen bearbeitet, war mal noch eben kurz vor Ladenschluss um 22 Uhr einkaufen und schon sind wir mitten im Gespräch über die DDR und deren derzeit wieder aufkommende Verklärung und Verharmlosung. Christa Moog erzählt von dem Teil ihres Lebens hinter der Mauer, von ihrer Verzweiflung beim Anrennen gegen die Enge und die Verbote, die unüberwindbar erschienen. Für sie waren Politbüro und Parteiführung immer eine Zusammenrottung vollkommen ahnungsloser Idioten, bestenfalls. Jetzt, eine Woche später am Telefon, sagt sie: „Für jemandem, der Geschichten geschrieben hat wie ich, war das eine Herausforderung, Sachen zu schreiben, die der Staat nicht hören wollte. Es gab immerhin den Hinstorff-Verlag in Rostock, der ein bisschen offen war für junge Schriftsteller, die nicht ganz auf Linie waren. Der Lektor Jürgen Grambow hat Texte von Franz Fühmann herausgegeben. Es gab auch mal eine Tagung, bei der junge Schriftsteller eingeladen wurden, die so ein bisschen auf Linie gebracht werden sollten. Da hab ich diesen Herrn Grambow kennen gelernt und wir waren im Gespräch. Er hat gesagt: Schick doch mal was, vielleicht kriegen wir das durch. Er hat mir dann gesagt, was gehen könnte, und was nicht. Also, wenn es um Volksarmee, Stasi und sowas ging, hat er gesagt: Das kriegen wir nicht durch, da machen wir uns mal keine Illusionen. Ich hatte dann aber schon parallel dazu einen Antrag gestellt. Nicht direkt auf Ausreise – sondern um einen jungen Mann aus England zu heiraten. Ich hab gedacht, mit dem System bin ich sowieso am Ende. Und dann kam noch die aufregende Geschichte dazu, dass Franz Fühmann eine Anthologie herausgeben wollte mit Texten von Leuten, die nicht veröffentlichen konnten. Uwe Kolbe, Lutz Rathenow, Sascha Anderson. Dann gelangte das Manuskript aber in die Hände der Stasi und alle Leute, deren Texte dabei waren, wurden bespitzelt. Es hat sich alles zugespitzt und ich habe gesagt, ich will hier gar nichts mehr veröffentlichen, ich will nur noch weg“.
Beim Frühstück entdecken wir beim Durchblättern des Gästebuchs ein Foto, das Herbert Grönemeyer an dem weißen Klavier im Uwe Johnson-Salon zeigt. Ja, im Mai 2024 sei er plötzlich mehr oder weniger spontan aufgetaucht: „Wir bekamen einen Anruf: Sie seien Musiker, wir hätten doch ein Klavier und ob sie etwas bei uns aufnehmen könnten. Ich wollte ja erst fragen ‚Wer sind sie überhaupt?‘, aber ich habe dann doch gesagt: Ja, kommen Sie ruhig. Und dann rückt er an mit vier Leuten, mit Kameras und Mikros. Und ich sagte: Herr Grönemeyer, was verschafft uns die Ehre. Er meinte, es sei was im Studio dazwischen gekommen, aber jemand von der Crew kannte uns. Grönemeyer ist ein total sympathischer Zeitgenosse und großer Musiker. Die Worte haben auch für ihn eine große Bedeutung. Er schreibt gute Texte.“
Auch das „normale“ Publikum im Frühstückraum trifft man in dieser „Ballung“ vielleicht nicht in den Lounges der Hotels am Hauptbahnhof. Das sind „sagen wir mal, kulturinteressierte nette Ehepaare… Wir haben auch manchmal Geschäftsreisende oder Leute vom EUREF-Campus in Schöneberg.“ Dort arbeiten, forschen und lernen 7.000 Menschen in mehr als 150 Unternehmen, Institutionen und Startups rund um die Themenfelder Energie, Mobilität und Nachhaltigkeit. „Das sind engagierte junge Leute, und manche interessieren sich auch für Kultur. Ich muss noch dazu sagen, dass Friedenau immer noch einigermaßen gut situiert ist. Hier wohnen auch Leute, die in jüngeren Jahren in Berlin studiert haben und hier geblieben sind. Zu ihren Festen kommt die Verwandtschaft, und die wohnt dann bei uns“.
Vielleicht gehörte der ältere Herr dazu, den wir bei unserem letzten Aufenthalt belauschten, als er überm ausgedehnten Frühstück seiner Begleiterin den Münsteraner Tatort des vergangenen Wochenendes nacherzählte, ja beinahe schon – mit Fußnoten versehen – nachspielte. Oder diese sympathische generationenübergreifende Frühstücksrunde (wohl ein Familientreffen), die angeregt und auf hohem Niveau aktuelle politische Themen debattierte. Auf einem Niveau, das man bei Illberger, Maischlanz und Klamprecht eher selten findet. Gerne hätte man sich hinzu gesellt und mitdiskutiert und dabei heimlich mitgeschrieben und Literatur daraus gemacht, zumindest aber ein Essay für die Zeitung.
„Aber einfach nur einen Hotelalltag zu beschreiben, reicht ja auch“, meint Christa Moog auf die Frage, ob es eines Tage die Schriftstellerin Christa Moog einmal wieder geben wird. „Worüber schreiben Autoren? Hemingway hat ja auch nur die Menschen in den Kneipen beobachtet und Charles Bukowski hat alles aufgeschrieben, was er als Briefträger erlebt hat. Und doch ist es große Literatur. Ich glaube, es ist nicht wichtig, dass man hochtrabende Themen nimmt, sondern es muss einfach gut geschrieben sein. Die Geschichten liegen auf der Straße“. Aber? Aber „Na ja, ich habe schon im Hinterkopf, nochmal was zu schreiben. Jetzt wollen wir mal sehen, ob ich das wirklich packe. Man muss dranbleiben, aber zum Schreiben braucht es einfach viel Zeit und viel Konzentration. Ich weiss nicht, vielleicht bin ich ja nach all den Jahren völlig verblödet? 20 Jahre habe ich ja nur in dem Hotel gerackert. Ich frage mich dann auch manchmal: Kannst Du überhaupt noch schreiben? Wenn Sie mir ein bisschen die Daumen halten, das hilft vielleicht.“ Einstweilen genießen wir den Aufenthalt im Literaturhotel und die Gespräche, wenn Christa Moog an der Rezeption ist. Vielleicht fragt sie dann noch einmal: „Waren wir nicht schon per du?“.