Die Pioniere des Deutsch-Rock

Foto-Copyright: Günter Derleth / Privatarchiv Ernst Schultz

Am 19. Dezember 1970 passiert etwas unerhörtes im Zweiten Deutschen Fernsehen. In der Familienshow „Wünsch Dir was“ mit dem Moderatoren-Ehepaar Dietmar Schönherr und Vivi Bach, tritt ein Haufen Langhaariger mit in bunten Klamotten auf und singt „Leere Hände“. Kein Schlager, sondern eine Milieustudie über einen Entwurzelten, der gerade aus dem Gefängnis kommt. Auf deutsch! Die Band heisst Ihre Kinder – 1968 in Nürnberg gegründet. Sie sind die heute fast vergessenen Pioniere der deutschsprachigen Rockmusik in der alten Bundesrepublik.

Wünsch Dir was“ ist für Provokationen bekannt. Und nun, so kurz vor Weihnachten so etwas. Sonny Hennig – einer der beiden Sänger und Komponisten der Band – erinnert sich in seinem 2014 erschienenen Buch „Rockmanns Erzählungen“ an die After Show Party und einen „ziemlich großen, fetter Typ mit einem Vollmondgesicht“, der der Familie Schönherr rät, „sie sollten etwas sorgfältiger vorgehen, was die Auswahl der Künstler betrifft“. Hennig überlegt, dem Typ „die Fresse zu polieren“. Der Typ ist der damals amtierende ZDF-Programmchef Wim Thoelke. „Gleich nach der Sendung gab es viele Anrufe, wie man denn die langhaarigen ungewaschenen Elemente in der Vorweihnachtszeit mit solchen Liedern auftreten lassen könne“, erinnert sich Ernst Schultz, Hennigs Kompagnon als Songwriter und Texter. 

Unser Name lässt sich mehrfach interpretieren: Kinder der Gesellschaft, Kinder der Kriegsgeneration oder Kinder der Meistersinger als lokalpatriotischer Bezug.“ Denn Ihre Kinder kommen aus der Franken-Metropole Nürnberg, der Stadt der Reichsparteitage und der Meistersinger. Ernst Schultz ist 1943 geboren, Sonny Hennig 1946. Ihre Texte lassen die ganze Aufmüpfigkeit der Nachkriegsgeneration, ihre Verunsicherung und Sinnsuche Musik werden – ohne politisch handgreiflich zu werden „Wir waren keine Agitprop Band. Wir waren eher etwas verschwommen im Vergleich zu Floh de Cologne oder Ton Steine Scherben.“ Das „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ ist Hennig „etwas zu hart.“ Was er und Schultz schreiben, osziliiert zwischen Sozialkritik und Surrealismus, zwischen kitschfreien Liebesliedern und herrlich vernebelten Trips. „Ein Mantel im Wind“ aus ihrem dritten Album ist so ein Song: „Ein Mantel im Wind. Ein Märchen. Und Vater kauft nur gutes Gras. Wo ich saß, bin ich schon lang nicht mehr. Ein Mantel im Wind. Ein Märchen. Dort fliegen die Schafe aus Glas in den Wald. Wo sie verloren gehen.“ Der Journalist Edgar Klüsener hat die Texte der Band 2008 in einem Essay für SPIEGEL Online treffend als „eine Art psychedelischer deutscher Beatlyrik“ charakterisiert. Damit kann Ernst Schultz gut leben. „Mantel im Winde ist sowas von surrealistisch, verschlüsselt und abgehoben. Das haben wir gern gemacht, weil man beim nächsten oder übernächsten Hören einen neuen Dreh in irgendeiner Zeile finden konnte.“ Drogen? „Gab es schon, aber keine harten Sachen, und nie beim Spielen. Zum Schreiben schon, aber nur ein paar Krümel in der Pfeife.“

Es war eine völlig neues Gebiet“, beschreibt er den Aufbruch zur Muttersprache: „Für mich war Dylan entscheidend. Den habe ich damals schon im Kopf übersetzt und festgestellt: das ist ja auch unsere Welt, unsere Biografie. Rumtrampen und ein bisschen Drogen. Politisch war das Thema damals Vietnam. Das war sehr zwiespältig, weil wir ja geradezu amerikanophil waren. Wir waren ja richtiggehende AFN-Kids, deshalb haben wir weiterhin amerikanische Musik gemacht. Nur wussten wir: Wenn wir den Leuten so etwas verticken wollen wie Dylan, müssen wir es wirklich in Deutsch bringen.“ So sieht es auch Sonny Hennig, aber leicht macht er es sich damit nicht: „Wenn man wie ich, jahrelang englisch gesungen hatte, war es wie ein Kulturschock, deutsch zu singen. Ich war so verunsichert, dass ich bei den ersten Versuchen die Band aus dem Proberaum schickte.“ schreibt er. 

Die musikalischen Vorbilder decken ein weites Feld ab: „Die Beatles waren genial. Mit drei Griffen einen Wahnsinns-Song nachspielen zu können! Dann Zappa, als der 67 ‚Freak Out‘ rausbrachte, das ja musikalisch völlig losgelöst war“, beschreibt Schultz, der 1965 sein Grafik-Studium abgeschlossen hatte, seinen damaligen musikalischen Horizont: „Ich hatte damals schon Collagen zusammengeschnipselt, ich war eigentlich auf dem gleichen Trip, wusste aber, dass das kommerziell nicht zu machen war. Aber Zappa hat sich über alles hinweggesetzt. 1988 war er bei Radio Gong und Sonny und ich haben ihn eine halbe Stunde lang interviewt. Der war so was von souverän, war auch politisch sehr hell und wusste über europäische Geschichte bescheid.“

In ihrer ersten gemeinsamen Band Jonah And The Whales singen Schultz und Hennig noch englisch, die Single „It’s Great/ It ain’t me babe“ (letzteres ein Dylan-Cover) verkauft sich 1966 allein in Nürnberg 5000 mal. „Heute wäre das fast eine goldene Schallplatte“, lacht Schultz, der im gleichen Jahr seine erste eigene Nummer für Jonah and The Whales „The Day I Met you“ schreibt, das später mit deutschem Text der Ihre Kinder Song „Leere Hände“ wird. „Leere Hände“ ist auch der Titel des zweiten Band-Albums, bei dem die beiden kreativen Köpfe wieder zusammenkommen, nachdem Sonny Hennig und die Band zunächst unter der Regie des späteren Scorpions-Produzenten Dieter Dierks ein Album mit der Sängerin Judith Brigger veröffentlicht haben, die danach aus privaten Gründen die Band verlässt. „Ich hatte inzwischen auch eigene Songs komponiert und getextet, und bin dann in die Band eingestiegen.“ Das Album wird in nur vier Tagen im Münchner Union-Studio aufgenommen. Die Musik pendelt zwischen knackigem Rock („Würfelspiel“ und „Leere Hände“), psychedelisch anmutenden Trips („Straße Ohne Ziel“), leicht progressiver Verspieltheit und eingängigem Pop mit politischer Botschaft („Südafrika Apartheid Express“), das das Thema Apartheid aufgreift, Jahre bevor die breite Öffentlichkeit darüber diskutiert. Die Country-lastige Nummer „Nie vergess ich wie es war“ hätte ein Hit sein können, „wenn wir es selber bemerkt hätten“, meint Ernst Schultz. „Das haben wir aber live relativ selten gespielt, das war uns wohl zu schlagerartig.“ Dabei ist gerade der Song ein gutes Beispiel für die Fähigkeit der Songschreiber, das Thema ‚verlorene Liebe’ kitschfrei auf deutsch zu betexten: „Ein Staubwind fegt die Straßen leer und ich weiß. dass ich frier. Du hast mich niemals fortgeschickt und trotzdem bin ich hier. Da wo die eine Sonne scheint, fehlt mir die andre so.“ 

Eine wichtige Rolle spielt Jonas Porst, Sohn des Nürnberger Unternehmers Hannsheinz Porst (Photo Porst). Er produziert das erste Album und „Leere Hände“, das beim Münchner Independent Label Kuckuck erscheint, das Baby des Musikverlegers Eckart Rahn. Der hat Mut zum Risiko und macht das Label zur Spielwiese von Krautrockpionieren, schrägen Avantgarde-Gruppen, aber auch des kanadischen Folksängers Jack Grunsky. „Leere Hände“ verkauft sich gut, 1970 wählen die Leser des Musikexpress die Nürnberger zur „besten Bluesband“ Deutschlands. Sie gehen auf ihre eigene „Never Ending Tour“. Bis zu 180 Konzerte pro Jahr werden sie in den kommenden zwei Jahren spielen, vor allem in Baden Württemberg profitieren sie von ordentlichem Radio-Airplay. Südwestfunk Moderator Frank Laufenberg spielt mehrerer Songs aus dem Album. „Er war der erste Moderator, der uns richtig unterstützt hat. Hier in Bayern hat der Ado Schlier gerade mal einen Song aus dem ersten Album gespielt, sonst kam da nix“. 

Ein Kuriosum ist die englische Version von „Leere Hände“, die erst mit der CD-Wiederveröffentlichiuneg von 1996 fürs Publikum zugänglich wurde. Jack Grunsky hatte die Texte ins Englische übertragen. „Ein Weissmuster sollte in die Staaten gehen um zu schauen, wie die Reaktion darauf ist“, erklärt Ernst Schultz. „Ich fand die Übersetzung aber grauenhaft, weil die so wortwörtlich war. So was muss man einfach nachdichten,“. Als er Jahre später selbst Dylan-Songs ins Deutsche überträgt, sitzt er oft wochenlang an einer einzigen Zeile.

Bei folgenden Album 2375004 (betitelt nach der Bestellnummer) ist schon die Verpackung aussergewöhnlich: die Platte steckt in einer Hülle aus Jeansstoff. Der Inhalt ist musikalisch kompakter und enthält Songs, die der Soundtrack selbstverwalteter Jugendzentren werden: das Drogendrama „Weisser Schnee, schwarze Nacht“ von Hennig und Ernst Schultz‘ Anti-Kriegslied „Toter Soldat“. Letzteres gewinnt seine besondere Intensität durch eine Soundcollage, bei der Orgel, Schlagzeug und martialische Geräusche das Grauen des Krieges akustisch abbilden. Der Text ist eindeutig, aber dennoch wiederum weit von Agitprop entfernt. „Viele träumen von zwei Beinen. Lassen einen Heiligen scheinen. Bringen jeden Stein zum weinen. Augen gradeaus und immer zu Befehl, Toter Soldat Deine Feldpost im Regen, der wie Feuer fällt. Toter Soldat. Und daneben der Segen, der kein Wort mehr hält“. Für eine Partei lässt sich so etwas schwer vereinnahmen. Das macht Sonny Hennig auch Kulturfunktionären der DDR unmissverständlich klar, als die über einen Auftritt und eine mögliche Plattenveröffentlichung reden. Da erklärt ihm ein Funktionär, das Drogenproblem aus „Weisser Schnee, schwarze Nacht“ gebe es im Sozialismus nicht, und der Westdeutsche antwortet genervt: „Schön für Sie. Ich gratuliere! Aber vielleicht kriegen sie ja bald eins“. Und als der Funktionäre fragt, ob mit dem toten Soldat auch ein Vietcong gemeint sein könne, da gibt Hennig Paroli: „Wenn man ihn erschießt, auf jeden Fall!“ Worauf das Thema DDR-Auftritte erledigt ist.

In Westberlin machen die Musiker eine ganz andere, geradezu surreale Erfahrung mit den gleichen Titeln, als sie im Club des Playboys Rolf Eden für die irre Gage von 3000 Mark gebucht sind. Als sie ankommen, sehen sie einen bemerkenswerten Fuhrpark von Porsches, Bentleys und Rolls Royces vor dem Laden stehen. „Das Publikum war in Partylaune und verhielt sich so, als wären wir nicht da. Lautes Lachen, Gläser klirrten, Sektkorken knallten unter lustigem Beifall und wir sangen ‚Toter Soldat‘ oder ‚Leere Hände’. Es erinnerte immer mehr an einen Fellini Film“, schreibt Sonny Hennig. Als er allein mit der Gitarre „Weisser Schnee, schwarze Nacht“ spielt, hüpfen vor sein Augen barbusige Mädels fröhlich planschend im Pool herum.

Es gibt aber auch ganz andere Erlebnisse in den Jahren exzessiven Tourens. Ein Festival Auftritt am Bodensee vor 25.000 Menschen, dem größten Publikum, vor dem die Band je aufgetreten ist. Ein zwölftägiger Support-Slot für Alexis Korners White Church. Der lässt den für ihn angemieteten Mercedes stehen und fährt im Bandbus der Nürnberger mit. Von ihm lernen sie vor allem den Umgang mit dem Publikum: „Ihr habt die Kraft der Sprache, ihr müsst mehr mit den Leuten reden“, empfiehlt er. Und Sonny Hennig ist ganz stolz, Korner eine Kassette mit Musik von Dylans Begleitband The Band schenken zu könne, die der noch nicht kennt. „Das war eine ganz wichtige Zeit“, erinnert sich Ernst Schultz. Bei der Tour habe ich am meisten gelernt für meine ganze musikalische Entwicklung. Den habe ich gut belauscht. Wie er sein Programm aufgebaut hat, wie er es als Moderator auf der Bühne verkauft hat.“ Ihre Kinder Konzerte haben in diesen Tagen eine ganz andere Dramaturgie. Die können mit einer halbstündigen Session anfangen. Erst eine türkische Saz, dann Congas, dann vielleicht die Flöte. Einer nach dem anderen setzt ein, bis die Session in den ersten Song mündet. Und nach jedem Konzert „standen da 20 Leute am Bühnenrand, die das, was sie gehört hatten, noch einmal aufarbeiten wollten. Das waren politische, sozialkritische Diskussionen. Das unterschied uns auch von andern Bands“.

In diese Zeit fällt auch eine Radio-Hörerhitparade, bei der „Toter Soldat“ hinter Peter Maffay und Heino auf Platz drei landet. „Sieben Minuten mit Kriegscollage drin!“ Ernst Schultz wirkt noch heute erstaunt: „Da haben wir bemerkt, dass sich doch ein bisschen was verändert hatte. Wir sind da eingebrochen in diese konservative Schlagerecke.“ Aber schon nach der Jeanscover-Platte beginnen die Auflösungserscheinungen. Beim nächsten Album „Werdohl“, das im Sommer 1971 aufgenommen wird, ist Sonny Hennig nur noch als Gast dabei. „Werdohl“ thematisiert mit „Die graue Stadt“ die Umweltverschmutzung. Auch damit ist die Band ihrer Zeit wieder einmal ihrer Zeit weit voraus. Vielleicht zu weit. Das Album ist musikalisch vielfältiger, komplexer und vor allem zu teuer produziert. Es verkauft sich schlecht, obwohl es zur besten deutschen Pop-Rock-Produktion 1971 erklärt wird. Für Hennig und Schultz ist es Zeit, sich neu zu orientieren. „Wir wollten nicht berühmt werden, wir wollten nur den Kick geben. Aber wir hatten uns damals ein bisschen mehr davon versprochen. Sonny und ich waren verheiratet, er hatte einen Sohn, ich eine Tochter. Und wenn wir dann von der Tour nach Hause kamen, brachte jeder 400 Mark Abschlagszahlung mit. Das ging nicht. Nach zwei Jahren war der Ofen aus.“ Schultz macht sich als Grafiker selbständig, und kann sich so bis heute den „Luxus selbstkomponierter und getexteter Musik“ erlauben. Auch Sonny Hennig macht weiter Musik und startet parallel eine erfolgreiche Laufbahn als Radiomoderator. 1972 macht Ernst Schultz sein erstes Soloalbum „Paranoia Picknick“, Sonny Hennig veröffentlicht seines unter dem Titel „Tränengas“, inspiriert durch Wallraffs „13 unerwünschte Reportagen“. Ernst Schultz steuert das Cover dazu bei – das aber nicht erscheinen darf. Der bayrische Ministerpräsident Franz Josef Strauß lässt die Anwälte dagegen aufmarschieren, denn sein Konterfei ist Teil der Collage – in Gesellschaft mit Nixon, Pinochet, Stalin, prügelnden Polizisten und dem Papst. Auf dem Ihre Kinder-Album „Anfang Ohne Ende“ ist Schultz nicht mehr dabei. 1984 erscheint noch einmal ein gemeinsames Studiowerk unter dem alten Bandnamen, mit dem die Gruppe 1985 auf eine letzte Deutschlandtour geht. 2000 tritt man in einer Nürnberg-Fürther Allstarbesetzung zum letzten Mal beim Nürnberger Bardentreffen auf.

Udo Lindenberg übernimmt ab 1972 mit „Daumen im Wind“ die Aufgabe, den deutschsprachigen Rock in die Mitte der bundesdeutschen Gesellschaft zu rücken. 

Dass Udo den Ruhm erntet, den Ihre Kinder gesät hatten, ficht Ernst Schultz wenig an. „Der hat ja damals noch Schlagzeug gespielt bei Doldinger, als wir ‚Leere Hände‘ gemacht haben. Aber er hat uns auch bei Echo-Verleihungen fairerweise immer erwähnt und auch oft gesagt, dass er ohne uns vielleicht gar nicht auf die Idee gekommen wäre, so was zu machen. Deswegen war ich da nie traurig, dass wir nicht den großen Ruhm geniessen wie er. Das war überhaupt nie unser Thema, wir wollten in unseren Straßenklamotten auf die Bühne gehen, und wenn da mal nur eine Neonleuchte als Beleuchtung war, war das auch okay.“ Und die Fans der ersten Stunde? Ernst Schultz wird nachdenklich. „Ich weiss nicht, ob wir Vorbilder waren. Aber jetzt, fast 50 Jahre danach, kommen immer mehr Meldungen und Bekenntnisse: Ihr habt meine Jugendzeit geprägt, ihr wart der Soundtrack meines Lebens…“