Steve Hackett – der Weltbürger

Fotos: Porträts copyright Tina Korhonen, Live copyright Lee Millward

2017 war Steve Hackett zusammen mit einem großen Orchester auf Tour, danach ist sein Album At The Edge Of Light mit durchaus auch politischen Untertönen erschienen, und bei den anstehenden Konzerten im Frühjahr 2018 hatte der selbsternannte »Kurator seines eigenen Museums« mit Selling England By The Pound erstmals ein komplettes Genesis-Album zum Mittelpunkt einer Show gemacht. Davor hatte ich Gelegenheit zu einem ausführlichen Telefonat mit dem oft unterschätzten Gitarristen….. Das Feature erschien 2018 im ROCKS. 

»Ich mag so viele verschiedene Musikrichtungen und so viele Instrumente. Wenn man immer nur westlichen Rock‘n‘Roll macht, beschränkt man sich selbst zu sehr. So sehr ich das auch alles liebe. Aber diese anderen Einflüsse sind eine scharfe Beigabe zur Hauptspeise Rock‘n‘Roll«, sagt Steve Hackett über sein aktuelles Album. Seine Musik ist kosmopolitisch und im ursprünglichen Sinn multikulturell. Der 69-jährige Gitarrist verarbeitet Einflüsse europäischer Klassik, Blues, Rock‘n‘Roll, amerikanischer Folklore und setzt sie in Zusammenhang oder wahlweise in Kontrast mit Ethno-Einflüssen, die nicht zuletzt seine Gastmusiker mitbringen. Das Label Progressive Rock passt nur bedingt auf sein aktuelles Werk. So gibt es beispielsweise kaum ungerade Taktmasse. »Ich habe meine ganz eigene Vorstellung von Überraschungen. Ich mag extreme Dinge, aber ich will auf keinen Fall etwas Unzugängliches schaffen.«

2018 © Tina Korhonen/ www.tina-k.com

Zu seinen musikalischen Mitstreitern gehören neben den üblichen Verdächtigen – unter anderen Roger King (Keyboards), Gary O‘Toole (Drums), sein Bruder John Hackett (Flöte), der Multiinstrumentalist Rob Townsend – auch der aserbeidschanische Musiker Malik Mansurov – der die Târ, eine gezupfte Langhalslaute spielt, die amerikanischen Gospel-Sängerinnen Durga und Lorelei McBroom und die britische Komponistin und Sitar-Virtuosin Sheema Mukherjee. Für Hackett gehört ihr Beitrag zu den bereichernden Erfahrungen während der Aufnahmen. »Sie spielte ein Solo – direkt vom Fleck weg. Sie hatte den Song nie zuvor gehört und stieg sofort in diese fliessende Improvisation ein. Ich kann dir nicht einmal sagen, was sie da genau tat, es ist ausserhalb der mir bekannten Noten. Das hat auch etwas mit Ihrer Fähigkeit zu tun, ganz mit dem Instrument eins zu sein. Und dabei spielt sie nicht nur die Töne, die man hört, sondern schlägt dabei auch die mitschwingenden Saiten an. Das klingt, als wäre sie ihre eigene Rhythmus-Section. Man merkt, dass ihr Spiel die Frucht von lebenslangem Lernen ist. Und du hörst zu und denkst: Wie ist so etwas möglich?«

Lange bevor die Musiker im Studio – oder falls nicht anders möglich via Internet – an die Umsetzung der Ideen gehen, hat das familieninterne Brainstorming mit Gattin Jo den Boden bereitet, die vor allem die Musik ihres Mannes betextet, »aber sie hat auch musikalische Ideen. Wir sitzen oft zusammen auf der Couch, wir unterhalten uns. Dann fangen wir an, uns gegenseitig Ideen vorzutragen und sozusagen zum Vorsingen beim Frühstück einzuladen.«

Stufe zwei im kreativen Prozess ist die Arbeit mit seinem langjährigen musikalischen Partner und Produzenten und Keyboarder Roger King. »Zusammen verwandeln wir die Sachen dann in echte Musik. Es ist, wie wenn man das Drehbuch hat, aber dann muss jemand den Film in die Kamera einlegen. Roger ist sehr gut, was Sounds betrifft. Da gibt es praktisch nichts, was er nicht umsetzen könnte. Er hat eine unglaubliche Geduld. Ich glaube, ich könnte das nicht, was er macht. Das ist, wie wenn man mit tausend Tellern balanciert, und keiner fällt runter.«

Hackett sucht seine Themen nicht in Fantasiewelten. Stattdessen ist der belesene Musiker interessiert an aktueller Politik ebenso wie an historischen Stoffen, und das spiegelt sich in seinem Werk zunehmend wider.

So besuchte er während einer Tournee Wilmington im US-Staat Delaware, im 19. Jahrhundert der nördlichste der Sklavenhalterstaaten der USA. Die Stadt spielte eine wichtige Rolle im Leben der Menschen, die der Sklaverei entkommen wollten. Sie war die letzte Station des sogenannten Underground Railroad. Von dort wurde die Flucht in die Freiheit nach Pennsylvania oder New Jersey organisiert. Auch mit Hilfe einer realen Eisenbahn, aber vor allem mit geheimen Routen, Schutzhäusern, Fluchthelfern und verdeckter Kommunikation wurden zwischen 1810 und 1850 etwa 100.000 Sklaven befreit. Die Lektüre des Romans The Underground Railroad von Colson Whitehead war der letzte Anstoß zum gleichnamigen Song, der das Thema textlich und musikalisch aufnimmt und verarbeitet. »Es ist die erschütternde Story der einet jungen Sklavin, die flüchtet, wieder eingefangen wird, wieder flüchtet. Wir beschreiben das mit entsprechenden Instrumenten: Mit Dobro, Harmonika, den Gospelsängerinnen Durga und Lorelie McBroom, die die Nachfahren der Leute sind, über die wir singen. Es beginnt als Folk, dann kommen Einflüsse von Bluegrass und Country dazu, dann Blues und Rock. Der Song entwickelt sich und wird hoffnungsvoll. Ich versuche, eine Geschichte zu erzählen und dabei eine gewisse Filmemacher-Qualität zu erreichen, wie bei einem Soundtrack.«

The Underground Railroad‹ ist ein Beispiel für Hacketts Interesse an historischen Stoffen. Als Künstler lebt er aber auch im Hier und Jetzt, setzt sich mit politschen Raelitäten auseinander und verarbeitet sie in seinen Songs. »Der erstarkende Nationalismus ist eine vollkommen rückwärtsgewandte Idee. Mir fällt da immer Mel Brooks in dem Sketch The 2000 Year Old Man ein. Da wird er nach der ersten Nationalhymne gefragt, und antwortet: Gott schütze alle in der Höhle 13, zur Hölle mit allen anderen. Niemand braucht mehr Nationalstaaten – das ist, wie wenn wir wieder in Höhlen leben wollten. Und wir haben derzeit ein extrem unberechenbares politisches Klima in England. Kein einziger Musiker, der international auf Tour geht, ist für den Brexit.«

Hackett setzt seine Musik, die von Kooperationen mit Musikern aus unterschiedlichsten Kulturen lebt, als positives Statement dagegen, als Bekenntnis zur einen Welt. Er nennt es »Globalisierung in action«, das Album will er als einen Liebesbrief an den Rest der Welt verstanden wissen. »Ich glaube an Freizügigkeit. Ich glaube nicht an den Brexit. Im Augenblick können wir in 27 Ländern leben und arbeiten – und kein einziger Politiker hat im Fernsehen die Vorzüge erklärt, die man hat, wenn man in der EU bleibt. Der Track ›Beasts in Our Time‹ ist voll von Anspielungen darauf. Da geht es um die, die uns in der Vergangenheit in Katastrophen geführt haben, und um jene, die das möglicherweise in der Zukunft tun werden. Ich nenne keine Namen, es geht mir um diese Geisteshaltung, die mir Sorgen macht. Du siehst die selben Fehler, die immer wieder gemacht werden: Die Dämonisierung der Fremden, die Marginalisierung von Migranten.«

Der Musiker Hackett auf der Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten, neuen Klängen und kulturellen Einflüssen – das ist die eine Seite. Die andere Seite ist der Bewahrer der 70er-Jahre Genesis-Musik, die er entscheidend mitprägte. Sein Einstand Nursery Cryme (1971) bringt zum ersten Mal härtere Klänge in den bisher eher akustisch geprägten Genesis-Stil ein. Der Allzeit- Klassiker ›The Musical Box‹ lebt von seinen schroffen Gitarrenriffs. In ›Dancing With The Moonlit Knight‹ brilliert der Gitarrist (vor Eddie Van Halen) als Pionier der Tapping-Technik. Auf seinem zweiten Genesis-Album Foxtrot (1972) wächst sein Kompositions-Anteil, auf dem Nachfolger Selling England By The Pound (1973) findet sich in ›Firth Of Fifth‹ sein wohl bekanntestes Solo und der erste ausserhalb der progressiven Filterblase wahrgenommene Erfolg der Band, die Single I Know What I Like basiert auf einem Hackett-Riff. Auf dem Doppelalbum The Lamb Lies Down On Broadway – dem letzten mit Peter Gabriel am Mikrofon – stehen die Story und kompaktere Songs mit kürzeren instrumentalen Höhenflügen im Vordergrund. Nach Gabriels Ausstieg fühlt sich der Gitarrist zunehmend mit seinen Ideen übergangen und verlässt nach Wind And Wuthering (1976) die Band. Dennoch hat er immer wieder betont, dass er einer Reunion der Fünfer-Besetzung nicht im Wege stehen würde. Als die immer unwahrscheinlicher wird, sieht er sich zusehends als Verwalter dieses Erbes. Schon in den 90er Jahren nimmt er zunehmend Songs aus dieser Zeit in sein Live-Repertoire auf. Mit den Genesis Revisited-Alben (1997 und 2012) und Tourneen ab 2013 hat er sich als glaubhafter Kurator dieses selbst erschaffenen Museums etabliert, dessen Ausstellungsstücke heute so gar nicht museal klingen.

Die Neuaufnahmen und die Live-Präsentation der historischen Musik sind für den Künstler eine ständige Gratwanderung zwischen Werktreue und Interpretation – und klingen deshalb so gar nicht nach Museum. »Ich bin stolz auf einige der neuen Versionen, weil da Dinge passieren, die es auf dem Original nicht gibt«, sagt er. »Ich sage nicht, dass sie besser sind, denn das ist eine sehr subjektive Angelegenheit. Das Original wird es für alle Zeiten geben, und wenn ich eine alternative Version aufnehme, versuche ich, authentische Versionen zu schaffen, die dem Geist des Originals treu bleiben und es gleichzeitig etwas größer machen. Ich bin überzeugt, eine ganze Menge der Genesis-Musik war von der Idee her sehr sinfonisch angelegt. Ich versuche, diese Musik an Orte zu führen, an die sie bisher noch nicht gekommen ist. Was damals eine Skizze war, könnte morgen ein Ölgemälde sein.« Live können diesem Ölgemälde auch mal Farbtupfer wie in den ursprünglichen Arrangements nicht vorgesehene Gebläse-Einwürfe von Rob Townsend sein, die einen Hauch von jazz-rockiger Jamsession zulassen. Oder das lange Gitarrensolo am Ende von Suppers Ready, bei dem Hackett sich die Freiheit minutenlanger orgiastischer Improvisation nimmt. »Das ist jede Nacht anders, das hebt einfach ab. In diesem Kontext funktioniert das gut, denn da ist vorher soviel durchkomponierte Musik, so dass das Ende wie eine Befreiungsschlag wirkt. Bei ›Musical Box‹ dagegen konnte ich nicht erkennen, dass irgendeine Veränderung der Soli Sinn machen würde, weil sie Teil des Songs sind, genauso wie der Gesang, als durchkomponierte Melodien.«

Der Wille, die Musik von damals »größer« zu machen, manifestierte sich zuletzt im Herbst vergangene Jahres in einer Tournee, bei der auch das Genesis-Material in üppig arrangierten Orchester-Versionen zu hören war. »Für mich jedenfalls funktioniert es sehr gut, weil es eine weitere Dimension hinzufügt. Die Energie, die darin liegt, ist ganz aussergewöhnlich. Wir haben die Show mit ›Dance On A Volcano‹ angefangen. Wenn du ein Orchester auf diesen ungeraden Takt spielen lässt – 7/8 – dass ist eine echte Herausforderung, Schon für eine Rockband, ganz zu schweigen von einem Orchester. Aber wenn es funktioniert, ist es großartig. In ›Willow Farm‹ aus ›Supper‘s Ready‹, wenn das Orchester da reinkommt, das klingt ganz groß!«

Bei der anstehenden Frühjahrstour wird ein Teil des Programms neben Stücken aus dem aktuellen Album und Hacketts 1979er-Werk Spectral Mornings die komplette Aufführung von Selling England By The Pound sein. »In gewisser Weise lebten wir auf einer Insel. Die frühe Genesis-Musik war richtig stolz darauf, durch und durch britisch zu sein«, sagt Hackett heute über diese Zeit. Und kein Genesis Album ist britischer als als Selling England By The Pound. Das beginnt schon beim Titel, der einen Wahlkampfslogan der Labour Party jener Tage zitiert, und das hört noch nicht auf mit den zahlreichen Anspielungen und Zitaten, die kaum jemand ausserhalb der Insel wirklich zu entschlüsseln vermag. Die Songs entstehen 1973 in einem alten Herrenhaus. Basis sind zunehmend kollektive Improvisationen. Lange Instrumentalparts wie in ›Firth Of Fifth‹, über den 7/8 Takt im Mittelteil von ›The Cinema Show‹ oder in ›The Battle Of Epping Forest‹ prägen den Höreindruck. Das krasse Gegenteil ist Phil Collins‘ Debüt als Lead-Sänger im sparsam instrumentierten ›More Fool Me‹. Und dann ist da noch der Hit ›I Know What I Like‹, immerhin eine Nummer 17 in den britischen Charts. Genesis werden in die Fernsehshow Top Of The Pops eingeladen, verweigern sich aber sehr zum Missfallen ihres Managers Tony Stratton-Smith. Hitparadenshows? Geht gar nicht, schliesslich sehen sie sich als eine ernsthafte Alben-Band.

Vor der kommenden Hackett-Tour hat das Album noch nie eine komplette Aufführung erlebt, auch nicht bei den Konzerten unmittelbar nach seiner Veröffentlichung. Dass es jetzt passiert, hat seine Gründe: »Für mich ist es eine spezielles Album. Ich denke, dass darauf meine besten Gitarren-Beiträge waren. Da war ich ziemlich stolz drauf. Wir spielten damals auch ambitionierter als wir es je zu vor getan hatten. Abgesehen davon: Als wir zu der Zeit in Amerika auf Tour waren, hat John Lennon in einem Interview gesagt, dass wir zu den Bands gehören, die er immer gern hört.«