Seattle ist nicht nur Grunge
Notiz: Die Geschichte basiert auf einem mitternächtlichen, über eine Stunde langen Telefonat mit Ann Wilson. Ich hatte – wie so oft – ein bisschen Angst vor dieser großen Sängerin, aber danach war ich ein Fan. Here we go:
35 Millionen verkaufte Tonträger in knapp 40 Jahren. Musikalisch vollzieht die Band um die Schwestern Ann und Nancy Wilson den Wandel von den folkrock-orientierten Klängen der 70er Jahre zum Hochglanz-Hardrock der 80er, angetrieben von Koks und Champagner. In den 90ern herrscht weitgehend Funkstille. Im 21. Jahrhundert befreien sich die Schwestern von allen Zwängen und werden schließlich auch in die Rock’n Roll Hall Of Fame aufgenommen.
Fotos: Copyright Jim Bennet
Es ist Chris Cornell, einer der Helden des Grunge-Movement, der die Laudatio hält, als die Schwestern und die Originalmitglieder der Band am 18. April 2013 in die Rock’n’Roll Hall Of Fame aufgenommen werden. Die Band habe seine Heimatstadt Seattle auf die musikalische Landkarte gesetzt, sagt der Soundgarden-Frontmann. »Als diese Alben herauskamen, spürte man, dass da eine Band war, die genau wusste, was sie tat und wohin sie wollte. Sie spielten harten Rock, und ihre folkigeren Songs zeigten ein tiefes Verständnis von Folk-Musik.« Diese Zuneigung au seinem anderen musikalischen Lager überrascht die Wilson-Sisters zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Noch in den 90er Jahren war das anders, erinnert sich Ann Wilson: »Wir hatten angenommen, dass es unüberbrückbare Grenzen gibt zwischen diesen unterschiedlichen Stilen im Rock, und dass zum Beispiel die Jungs von Alice in Chains uns auf Distanz halten würden, weil wir aus dem anderen Lager sind. Aber so war es eben nicht. Hier in Seattle haben wir eine sehr eng vernetzte Musikalische Gemeinschaft, in der auch Leute, die vom Jazz oder Gospel kommen, sich mit Rockleuten mischen. Jerry Cantrell hat mal zu mir gesagt. „Ich liebe ›Barracuda‹ ich liebe ›Crazy On You‹, aber was um Himmels willen habt ihr in den 80er-Jahren gemacht?“ Die Sachen mochten sie nicht.«
Bei der Zeremonie wird die Originalband geehrt, nicht die Hit-Maschine der 80er-Jahre. Dass heißt: Höchste Anspannung, denn es gehen Menschen auf die Bühne, die 1979 zuletzt zusammen gearbeitet haben, und die damals zermürbt von Beziehungskonflikten aller Art auseinandergegangen sind. Zwei Tage wird geprobt, und man spürt die Spannung im Raum. »Eine Beziehung, wie wir sie hatten, kann man nicht wiederbeleben. Es ist wie bei einer Scheidung. Dafür gibt es immer verdammt gute Gründe. 30 Jahre später springt man nicht vor Freude in die Luft und sagt: Hallo Jungs, lasst und noch ein paar Platten aufnehmen. Das wird nicht passieren. Wir haben das gut hingekriegt bei der Zeremonie. Es war ziemlich surreal und nervenaufreibend, aber wir haben es alle überstanden«. ›Crazy On You‹ vom ersten Album klingt in der Show überzeugend, und wie eine gut eingespielte Band, die noch einmal für ein paar Minuten auf Zeitreise geht.
Die Geschichte beginnt 1972, als die 22-jährige Ann Wilson in die Band Hocus Pocus einsteigt, deren Gitarrist Roger Fisher schon seit 1963 in der Musikszene in Seattle aktiv ist. Rogers Bruder Mike lernt Ann bei einem der Auftritte kennen und lieben. Als Army-Deserteur ist er nach Kanada geflohen, Ann folgt ihm nach Vancouver. Die Band zieht notgedrungen hinterher. Mike wird Soundmann der Band. 1974 stößt Anns vier Jahre jüngere Schwester Nancy dazu. Sie hat Erfahrung als Folk-Sängerin, spielt Gitarre, Mandoline und Klavier, beginnt eine Liaison mit Roger Fisher. Nun heisst die Band Heart. Die beiden Schwestern und ihre Liebhaber wird man in der Szene bald „The Wil-Shers“ nennen. Das erste Album Dreamboat Annie wird ein Erfolg, obwohl die Musik zwischen allen Stühlen sitzt. »Heart ist Led Zeppelin mit Brüsten« meint Pat Benatar und spielt damit nebenbei auf die Verbindung von Heavy Rock und Folk Elementen. Nancys akustische Gitarre steht im Mittelpunkt der rock-orientierten Musik. Gleichzeitig lernt Ann Wilson, wie eine Rocksängerin zu singen: Hoch und laut.
Ein paar Jahre zuvor sind Ann und Nancy noch zwei unschuldige Mädchen, die sich in Seattle ein Konzert ansehen. Wegen Three Dog Night. Aber da sind auch noch Led Zeppelin, die sie ziemlich gut finden, bis Robert Plant singt „squeeze me baby, til‘ the juice runs down my leg“ (drück mich, Baby, bis mir der Saft am Bein runterläuft). Ann lacht: »Sie spielten ›The Lemon Song‹. Ich war vielleicht 16 Nancy 12, und als wir bemerkten, um was es bei dem Text ging, beschlossen wir: bloss schnell weg von hier, so was müssen wir uns nicht anhören. Wir hatten wirklich Angst! Wir sind einfach geflüchtet. Während die anderen Mädchen um uns herum offenbar einen Orgasmus nach dem anderen hatten. Ein paar Jahre später hätten wir sicher anders reagiert.« Ein paar Jahre später spielen sie in ihren Shows Led Zeppelin Covers, was ihnen bei den Fans den durchaus wohlwollenden Spitznamen Little Led Zeppelin einbringt. Als sie 1975 in einem Club in Vancouver gerade mitten in ›Stairway To Heaven‹ sind, marschiere
n Page, Plant & Co an der Bühne vorbei. »Wir sahen sie nur so im Vobeigehen. Aber das reichte uns vollkommen für dieses Gefühl: oh mein Gott, wir atmen die selbe Luft.« Die Schestern haben nie geleugnet, dass die Briten für sie Lehrmeister waren, und das ist folgerichtig im gesamten Heart-Ouevre immer wieder erkennbar.
Die Begeisterung der Sängerin für die Briten hält bis in die Gegenwart an: Das John F. Kennedy Center For Performing Arts in Wahington ehrt jährlich Künstler für ihre Verdineste um die amerikanische Kultur. Als im Dezember 2012 Led Zeppelin dran sind, spielen Heart ein Led Zeppelin Tribute Set mit Jason Bonham am Schlagzeug, die drei überlebenden Led Zeppelin Musiker sitzen im Publikum. Bei ›Stairway To heaven‹ gibt es Standing Ovations vom Publikum und Robert Plant hat Freudentränen in den Augen. In den ersten Tagen nach der Show wird das Vieo vier Millionen mal angeklickt. Die Frage, ob sie mit Jimmy Page touren würde, hat Ann Wilson inzwischen schon öfter gehört, aber darauf zu antworten macht ihr hörbar Spaß. Page hat übrigens noch nicht angerufen, aber »wenn sie mich fragen würdem, ob ich eine Zeitlang für Led Zeppelin singen kann, dann wäre ich ihr Mann (Sie sagt tatsächlich: I would be their man). Ich würde auf der Stelle meine Koffer packen und den Spaß meines Lebens haben. Aber sie glauben ganz stark an ihre ursprüngliche Bestzung, und das ist sehr unwahrscheinlich dass jemand anders da mitmachen kann. Abgesehen von Jason Bonham, aber der gehört ja zur Familie.«
Die stilistische Vielfalt und den Mut, vorsichtig abseits vom Mainstream zu schreiben, prägt schon das Debütalbum. Da ist der hypnotische, erotische Groove von ›Magic Man‹, das ungewöhnliche Akustik-Intro zum ansonsten stürmischen Rocker ›Crazy on You‹, da ist schließlich mit ›Love Me Like Music, I’ll Be Your Song‹ eine Ballade, die schon durch den Titel signalisiert, dass sie Klischees trotzen will. Nicht nur diese Songperle ist der Beziehung von Ann Wilson zu Mike Fisher zu verdanken: »Ich war völlig verliebt. Er war alles, was ich sah, alles, worüber ich schreiben wollte. Aber ich wollte mehr als dieses: „Oh Baby, Baby, ich liebe dich“. Ich wollte etwas poetischeres. Ausserdem fühlte ich diese Zerrissenheit, weil ich die Musik genauso sehr liebte wie ich ihn liebte. Also musste der Lovesong für ihn etwas Originelles sein, interessante Worte haben.«
Die Musiker sind berauscht von dem Gefühl, unbekanntes Terrain betreten zu haben. Sie sind jung und idealistisch und sehr von sich überzeugt. Niemand stellt Stoppschilder auf: »Wir hatten nichts zu verlieren, wir hatten bis dato keinen Hit gehabt. In den 70er-Jahren waren die Dinge offener, es gab Platz für Veränderungen. Es gab kein MTV. Es war ein offenes Feld, wir sprangen hinein. Und es gab keine vergleichbare Band, in der zwei Frauen das Sagen hatten und die Songs schrieben. Das hat den Leuten die Augen geöffnet und uns das Selbstvertrauen gegeben.Wir mussten herausfinden, wie man Rock’n’Roll mit Männern macht, wir mussten ein Parallel-Universum erfinden, das die Rock’n’Roll-Welt einer Frau war.« In der realen Rock’n’Roll-Welt der Männer wird Nancy Wilson zu dieser Zeit aber immer noch Fragen hören wie: „Ist deine Gitarre auch wirklich eingestöpselt?“
Auch nach den ersten Erfolgen spüren die Frauen: Wir werden nicht ernst genommen: Ihr Label Mushroom veröffentlicht 1977 eine ganzseitige Anzeige, die die Schwestern mit nackten Schultern zeigt – genau wie auf dem Album-Cover. Garniert mit dem suggestiven Spruch: „It was only our first time“ (Das war nur unser erstes Mal). Gerade so, als wären die Schwestern ein inzestuöses lesbisches Paar. Die sind entsetzt. Der Bruch mit Mushroom erfolgt, als das Label ein zweites unfertiges Album (Magazine) veröffentlicht. Die Wilsons erreichen, dass es zurückgezogen und erst in einer von ihnen überarbeiteten Fassung erscheinen wird. Es bleibt aber dennoch skizzenhaft. Die ganze Kreativität der Band geht stattdessen in das Album Little Queen für das neue Label Portrait, ein Unterlabel von CBS. Es erscheint im Frühjahr 1977 noch vor der überarbeiteten Fassung von Magazine.
Little Queen beginnt mit einem turmhohen Riff und einem ätzenden Text:›Barracuda‹ heisst der Song, der mit den Machos im Business abrechnet: Noch immer wütend über die Mushroom-Anzeige war Ann in Detroit ein Radio Promoter namens Tony begegnet. Einem von der Sorte, die gerne sexistische Witze reisst. Er riecht nach billigem Parfüm, rammt ihr den Ellbogen in die Seite und grinst sie an: Wo ist dein Lover? Und meint damit nicht Michael Fisher, sondern ihre Schwester Nancy. „Wäre Nancy dagewesen, sie hätte ihm wahrscheinlich ihre Gitarre über den Schädel gezogen“ schreibt Ann in der Heart-Autobiographie („Kicking & Dreaming“). „Ich war aber gelähmt vor Wut“. Die hält noch an, bis sie wieder in ihrem Hotelzimmer ist, und den Text schreibt, der später den Gitarrenriff von Roger Fisher krönen wird. Jener Riff, der den Song so aggressiv macht, sei doch abgekupfert von der Nazareth-Version von Joni Mitchells‘ ›This Flight Tonight‹ findet damals zumindest Manny Charlton, der Gitarrist der Schotten. »Ja, das wurde oft behauptet, aber Roger Fisher hatte ›Achilles Last Stand‹ von Led Zeppelin im Hinterkopf. Aber dieser galoppierende Groove ist eigentlich viel älter, den gibt es ziemlich oft.«
Das andere Extrem der Platte zeigt sich im ›Sylvan Song‹, der kleinen Schwester von Led Zeppelins ›The Battle Of Evermore‹, der ein Produkt der Beziehung des Paares Nancy Wilson und Roger Fisher ist: Folk meets Rock auf dem Rücksitz des Vans, mit dem die Band tourt. Dort bringt Nancy ihrem Geliebten das Mandoline spielen bei, umgekehrt zeigt er ihr neue Gitarrentricks. »Diese Musik entstand aber auch aus unserer Begeisterung für Zigeuner-Kleidung und altertümliche Klamotten. Das war das generelle Lebensgefühl in Vancouver zu der Zeit.« Little Queen wird nach dem Debüt das zweite Album von Heart, das über eine Million Einheiten absetzten kann. Musikalisch liegt es für Ann Wilson vorne. »Die Band war inzwischen eine eingespielte Einheit. Bei Dreamboat Annie hatten wir ja nicht einmal einen Drummer, sondern benutzten verschiedene Studiomusiker. Das fällt anderen vielleicht nicht so auf, aber ich kann es hören.« Was jedem auffallen konnte, war die Vermarktungsstrategie des Labels. Das Cover von Little Queen zeigt zwar die ganze Band, aber die Herren stehen verschwommen im Hintergrund. Das sorgt für Unmut bei den Herren der Band: »Die armen Jungs. Manchmal tun sie mir ja im Nachhinein leid. Sie haben schließlich genauso hart gearbeitet wie wir. Aber schließlich wurden sie ja genauso wie wir auch in die Rock’n’Roll Hall Of Fame gewählt. Hoffentlich haben sie sich dadurch ein wenig besser gefühlt.«
In kommerzieller Hinsicht gibt es in den späten 70er Jahren nichts zu meckern: Heart Alben gehen weg wie geschnitten Brot, die Damen erscheinen im Juli 1977 auf dem Cover des Rolling Stone, Ende 1978 erreicht Dog and Butterfly Doppel-Platin in den USA. Aber 1979 ist das Jahr, in dem die Wilsons ihre Liaisons mit den Fishers beenden, sowohl privat als auch geschäftlich. Das 1980er Album Bebe Le Strange wird noch einmal ein großer Erfolg, aber im Bandgefüge bröckelt es weiter: Nach der 82er Produktion Provate Audition müssen auch Drummer Michael Derosier und Bassist Steve Fossen gehen. Das Album verkauft sich schlecht, die Stimmung wird zunehmend mehr von Kokain bestimmt. Nach Private Audition (1983) fliegt die Band bei CBS raus, beim Stand von zwölf Millionen verkauften Alben. Die Schwestern gehen Anfang 1984 ins Kino und schauen sich die Rockband-Satire „This Is Spinal Tap“ an. Sie haben das Gefühl, das alles nur zu gut zu kennen. Als sie das Kino verlassen, sagt Nancy zu Ann: „Autsch!.
Heart besteht nun aus den Schwestern, dem Bassisten Mark Andes (ex-Spirit, Canned Heat), Drummer Denny Carmassi (Montrose, Sammy Hagar) und dem einzigen Überlebenden der bisherigen Formation, Gitarrist und Keyboarder Howard Leese. »Wir brauchten Geld, wir hatten keine Hits. Also mussten wir uns ein bisschen verkaufen«, lautet Ann Wilsons Kurzfassung der Lage Mitte der 80er-Jahre. Capitol Records zeigt sich interessiert. Unter der Bedingung, dass sie Songs von anderen Songschreibern aufnehmen, oder zumindest mit ihnen kooperieren. Capitol bringt Ron Nevison als Produzenten ins Spiel: Arrogant, dreist, meinungsstark. Immerhin war er der Toningenieur von Led Zeppelins Physical Graffiti gewesen. Gleich zu Beginn der Aufnahmen sagt er: »Die akustischen Gitarren sind so altmodisch. Können wir die weglassen?“ Nancy Wilson, für die die akustische Gitarre das Herz der Musik ist, sagt einfach: »Aber sicher«.
Das Konzept geht auf: Das schlicht Heart betitelte Werk verkauft fünf Millionen und wirft allein in den USA fünf Hitsingles ab, das Nachfolgealbum Bad Animals (1987) schafft es in die britischen Album-Charts. Brigade (1990) wir eine weiterer Mehrfach-Platin-Erfolg. Der Erfolg hat seinen Preis: »Wir weiter Songs geschrieben, aber das Label hat sie fast alle zurückgewiesen. Wir waren in keiner guten Verfassung. Wir waren erschöpft, wir feierten Parties ohne Ende. Wir sind einige Male eingeknickt bei Entscheidungen, was uns heute nicht so passieren würde. Manche dieser Songs von anderen Schreibern habe ich mit der Zeit angefangen zu mögen, bei anderen hat das nie funktioniert.« Es ist die Zeit der Musikvideos, die dem Zuhörer eine Geschichte aufdrängen, die sich ein Regisseur ausgedacht hat. Die Musik darf Platz auf dem Rücksitz nehmen.
Die Video-Drehs belasten schließlich auch das sonst so gute Verhältnis der Schwestern. Ann muss zuschauen, wie ihre blonde, schöne Schwester Nancy mit dem perfekten Körper von den Regisseuren zu einer Tusse gemacht wird. Während sie selbst, die in der Zeit ständig mit ihrem Übergewicht kämpft, am besten ganz aus dem Bild verschwinden soll. »Das machte mich total wütend. Ich weiss nicht, ob sie die Aufmerksamkeit genoss, oder ob sie nicht sah, was da passierte. Ein paarmal bin ich rausgegangen und haben geweint, wenn sie sie mal wieder in ein Korsett steckten und mit einer Gitarre in der Hand von einer Klippe springen liessen, all dieser ganze Scheiss. Und glaub‘ mir: Es war keine Eifersucht. Ich wollte nicht in einem Korsett mit einer Gitarre von einer Klippe springen! Aber es war kaum zu ertragen, seine kleine Schwester in eine so schreckliche Rolle gedrängt zu sehen. Wir haben damals und bis heute immer wieder darüber geredet. Dieses ganze Eighties-MTV-Ding hat uns wirklich traumatisiert.«
Eine Art Trauma wird auch der große Hit des Brigade Albums ›All I Wanna Do Is Make Love To You‹, geschrieben von Robert „Mutt“ Lange. Die umstrittene Geschichte einer Frau, die mit einem Anhalter Sex hat, und die dabei ein Kind empfängt. Weil der Mann, mit dem sie zusammenlebt, unfruchtbar ist. Die Moritat schafft es überall auf Spitzenplätze, in Irland auf den Index. Auf der Tour zum Album ist sie noch im Programm, danach kommt sie in den Giftschrank. Als Nancy einige Jahre später vorschlägt, den Song wieder ins Programm aufzunehmen, kommt ihre Schwester bei den Proben gerade mal bis zum Ende der ersten Strophe, dann bricht sie ab. Etwas, was sie noch nie getan hat. »Verdammter Mist. Ich kann das nicht singen. Es ekelt mich an«, flucht sie. Das hat sich bis heute nicht geändert. »Das sitzt uns wie ein Stachel im Fleisch. Überall auf der Welt wollen die Leute es hören, aber ich kann’s nicht singen. Ich stehe einfach nicht hinter der Aussage.«
Das Ende der Brigade-Tour markiert einen Einschnitt. Ann und Nancy fühlen sich ausgebrannt. 1993 erscheint das Album Desire Walks On, das letzte im Arena-Rock-Stil. Vielleicht ist die Coverversion von Bob Dylans ›Ring them Bells‹ mit Layne Staley von Alice in Chains als Gastsänger ein Zeichen für das, was später kommen soll. Das nächste Album The Road Home (1995) wird produziert von Led Zeppelin-Bassist John Paul Jones, enthält live eingespielte akustische Versionen des bekanntesten Repertoires und läutet ein Zeitalter der Neubesinnung auf alte Werte ein. Danach ist Funkstille. Abgesehen von dem akustischen Side-Projekt The Lovemongers passiert nicht viel. Erst ab 2002 tour Heart wieder..
Die Musik, die Heart in 21. Jahrhundert veröffentlicht, stellt zum einen wieder die akustische Gitarre weiter in den Vordergrund. Die Folk-beeinflussten Melodien der frühen Jahre kehren zurück, aber es gibt auch einen neuen, schrammeligen Ton, einen Anklang an Grunge-Ausgefranstheit, die sich in den lauteren Songs trefflich mit dem „schönen Gesang“ der Schwestern in Kontrast setzt. Während Jupiters Darling (2004), das erste Studioalbum nach 11 Jahren, noch von der Band selbst produziert wird, findet sich für Red Velvet Car (2010) der optimale Produzenten: Ben Mink. Ein kanadischer Multiinstrumentalist und Songschreiber, der unter anderem bei den Prog-Rockern FM gespielt hat, für eine Violinsolo auf dem Rush Album Signals Credits hat und so unterschiedliche Acts wie die Barenaked Ladies und KD Lang produziert hat. »Dieser Typ ist ein Engel. Er bringt dich dazu, in einen Raum einzutreten, und alles was du mit dir rumschleppst, draussen zu lassen. Ben ist einer der interessantesten Musiker, die ich je getroffen habe, und das ist wirklich keine Übertreibung«, schwärmt die Frontfrau. »Er hat klassische Musik gemacht, er spielt in einer Klezmer-Band, er macht Jazz und Rock. Er ist ein wahres Original. Er hat mir beigebracht, Kraft auszudrücken durch Zurückhaltung. Ich neige dazu, es einfach rauszulassen, so laut, so extrem und leidenschaftlich wie ich nur kann. Daran ist an sich nichts verkehrtes. Aber er hat immer wieder darauf bestanden: Probier’s nochmal, halte dich etwas zurück. Das ist die wichtigste Lektion, die er mich gelehrt hat.«
Mink als Produzenten zu gewinnen, ist nicht leicht. Zunächst ist er lediglich bereit, Anns Soloalbum Hope & Glory zu produzieren, das 2007 erscheint. Er ist nicht sicher ob er mit der Band arbeiten will, er hat das Bild von Heart in den 80er Jahren vor seinem geistigen Auge und Ohr. Nach dem Erscheinen von Hope & Glory fragt Ann, ob er jetzt bereit wäre, Heart zu produzieren. Er stimmt zu unter der Bedingung, dass die Band Experimente zulässt. Während Red Velvet Car, die erste Frucht der gemeinsamen Arbeit, noch etwas orientierungslos klingt, lotet Fanatic alle Möglichkeiten aus, die die wiedergewonnene Freiheit möglich macht: Ann Wilson führt ihre nuancierte Stimmgewalt befreit ins Feld zu einer Musik, die nicht vor schrägen Ideen zurückschreckt – vom den störrischen Minimalismus von ›Skin And Bones‹ über spröde schleppenden Funk (›Good Old America‹) zu hypnotischen Echo-Schleifen in ›Million Miles‹. Für die Sängerin ist Fanatic aber nicht nur ein Aufbruch in die Moderne, sondern schließt auch einen Kreis zu den Anfängen.
»Es gibt eine Verbindung zwischen Fanatic und Dreamboat Annie oder Little Queen. Die offensichtlichste ist das, was Nancy mit der akustischen Gitarre macht – die Art, wie die Songs geschrieben sind. Wenn wir heute schreiben, kommt das aus einem ähnlichen romantischen Gefühl, wie wir es als junge Mädchen hatten. Das werden wir nie verlieren, es ist einfach nur erwachsener geworden. Die Probleme der Welt sind nicht kleiner geworden, und ein Künstler sollte mehr tun als sich zurücklehnen und nur über Sex schreiben. Das reicht ins nicht. Natürlich macht es Spass, über Sex zu schreiben, aber es ist doch nicht das Einzige, was es gibt.«