Brille mit Verzerrer
Heinz Rudolf Kunze im Tollhaus, Karlsruhe, 1997
Es lebe die Gabe der werkimmanenten Interpretation: Da mag man sich an des Künstlers Deutsch-Quotenforderungen reiben, da mag man anderer Meinung sein als er, was die deutsche Recht-schreibung betrifft. Es zählt letztendlich, was passiert, wenn der Rock´n´Roller mit Herz und Hirn über die Bühnenbretter reitet. Und das tut er satte zweieinhalb Stunden lang, und jede Minute zählt. Und ist doch so kurz. Kein Wunder auch, wenn man in einem Schatzkästlein von 17 veröffentlichten Alben wühlen darf.
Die Show beginnt mit leisen und schrägen Tönen: Kunze in der Mitte, Sprechtexte, die höchste Konzentration erfordern. Von dem Mann mit Brille und Wollmütze, und vom Publikum. Dann- klammheimlich schleicht der Rock´n´Roll auf die Bühne. Zuerst in Form von Heiner Lürig, des Heinzens Keith Richards seit Jahr und Tag, kongenialer Partner in Crime und Garant des erdigen, nie einen einzigen Ton zuviel setzenden Gitarrenspiels. Noch hält der Meister des erdigen Fender-Telecaster Drives sich bedeckt, dann kommt Raoul Walton mit dem Bass hinzugeschlichen, der den Bauch an Figur und Instrument appliziert. und dann ist plötzlich von des Meisters Kunze recht kahlem Kopf die schwarze Wollmütze entschwunden und sein „Alter Ego“ (so heißt auch die aktuelle CD, erhebt sein brüllend Haupt gar formidabel.
Mainstream ist das schon, auch wenn Kunze seine musikalischen Götter ganz woanders sucht und findet: Der Gitarrist Fred Frith, Robert Wyatt und die ganze Seventies-Canterbury-Mafia um Henry Cow und Caravan, das ist sein Credo. Kunze selbst verbannt den Teufel des Schrägen ins Detail (geballt und hörbar eben nur am Anfang des Pro-gramms) und läßt es ansonsten krachen. Am schönsten kracht es, wenn er ein paar Glanzstückchen der vorletzen CD „Richterskala“ hervorzau-bert, die zumindest einige grunge-identische Aromastoffe enthält.. Welche eine Freude, in falscher Tonart die magischen Worte „Du bist einfach ekelhaft“ mitzusingen. Und derweil festzustellen, daß empörte Nichtraucherinnen zum Tresen rennen, um mitzuteilen, sie hätten sich das alles anders vorgestellt. Da drinnen würde ja geraucht. und das sei ganz furchtbar. Tja, Myladies – das ist ein Rockkonzert und keine Dichterlesung.
Das Material von „Alter Ego“ ist, wenngleich ungleich poppiger, immer noch gut für das Schwingen im Solarplexusbereich. Und auf dem Balladensektor siegt wie schon seit Jahren: „Leg nicht auf“- Da will das Feuerzeug aus dem Täschlein springen: „Leg nicht auf, hör mir zu, ich bin ganz genauso klein wie Du, diese Stelle, die Dir wehtut, kenn´ ich ganz genau…“ So geht der Lovesong auf deutsch. und zwar nur so, Herr Engler. Haben Sie das verstanden? Nein? Trotzdem setzen, sechs. Jetzt darf Herr Lürig brünftig aufdrehen, und hinten kreischt fröhlichen Schwellpedals die Schweineorgel, bedient von Matthias Ulmer, der vor zwanzig Jahren mit der Schwäbischen Progressive-Rock Band „Anyones Daughter“ schon mal in unseren Breiten ziemlich erfolgreich war. Auch so eine kleine Freude am Rande…
Irgendwann dann ist allles gesagt, was zu sagen war, die Lautstärke hat schon gastronomische Dimensionen angenommen, wes das Herz überquoll, des platzte schon bald die Verstärkeranlag´, jaja, und es wird der Schluß avisiert und unterschwellig angetändelt mit dem eigentlich ganz normalen Gassenhauer „Wenn Du nicht wiederkommst“. Und tatsächlich, nun geht die Band von der Bühne – und nach einem Moment der leichten Desorientrierung greift das durchaus mitsingwillige Volk den Faden auf. Und singt brummend und sausend… „wenn Du nicht wieder kommst“. Doch so oft er auch wiederkommt, eins spielt er nicht: „Dein ist mein ganzes Herz“. Nein. Also das ginge nun wirklich nicht, klärt mich der Künstler am nächsten Morgen auf. Er habe es getragen sieben Jahr und könne es tragen nicht mehr: In A Capella-Versionen, in Punkversionen, in Unplugged-Versionen. Aber jetzt – jetzt gebe es überhaupt eben keine Version mehr. Das Publikum nahm`s dennoch nicht übel. Und ging hin, trank das Bier aus, kasteite sich und verließ den Saal milde brummend. „Wenn Du nicht wiederkommst….“