Es geht auch ohne Flöte!

Martin Barre & Band, Remchingen, Kulturhalle, 12.11.2021

Martin Barre ist sicher einer der unterschätztesten Gitarristen. Selten nur wird er in einem Atemzug mit Ritchie Blackmore oder Jimmy Page, mit Eric Clapton oder Jeff Beck genannt. Und doch: Ohne seine Riffs, seinen Sound wären Jethro Tull nicht voll erblüht. Mit seinem erdigen Spiel sorgte er dafür, dass die Band nie zu beschaulich klang. 19 Studioalben und 3000 Auftritte lang, von 1968 bis 2011war er dabei, dann verzichtete sein Chef Ian Anderson auf seine Dienste. Seitdem veröffentlicht er Alben mit eigenem Material und tourt damit und mit ausgesuchten Werken seiner ehemaligen Band.

Barre hat einmal gesagt, seine Bühnenshows repräsentierten »the heavier side of Tull«. Und exakt das ist es, was die Fans zu hören bekamen: Barre teilt sich die Gitarrenarbeit mit seinem Sänger Dan Crisp. Dadurch gewinnen richtig fette, gitarrenlastige Stücke wie A New Day Yesterdayvon 1969 eine bisher so nicht gehörte Durchschlagskraft. Das tut auch dem im Original etwas orientierungslosen ›Fat Man‹ ziemlich gut. ›Lone Wolf‹ aus Barres Solo-Katalog, das Spurenelemente von Wishbone Ash, Black Sabbath, Blues und selbstredend Jethro Tull enthält, passt perfekt für diese Band. Die mit hardrockiger Kantigkeit aber auch ausgebuffter Finesse spielt, was nicht zuletzt der erstklassigen Rhythmusabteilung zu verdanken ist. Drummer Darby Todd kann neben brachialer Härte auch filigranen Fusion-Jazz und Bassist Alan Thomson spielt viel, aber immer songdienlich. Er hat mit Größen wie Robert Palmer, Phil Collins und Eric Clapton gearbeitet.  

Die Stimme eines Ian Anderson wird an diesem Abend, dessen zweiter Teil dem kompletten Aqualung-Album gewidmet ist, wohl kaum jemand vermisst haben. Dan Crisp schafft es scheinbar mühelos, seine Stimme auf Anderson-Timbre umzustellen, ohne den Alten zu kopieren. Damit gibt er den Songs das nötige Quäntchen Wärme und Wahnsinn. Und das irre Funkeln in den Augen und die Körpersprache Andersons hat er quasi als Zugabe noch drauf geschafft. Die Flöte? Taucht nur einmal als Gag in Form einer Blockflöte auf und wird im fein inszenierten Gitarrengebrüll nicht weiter vermisst. Das sich besonders für die heftigeren Songs des Aqualung-Albums anbietet, das vor fünfzig Jahren veröffentlicht wurde und massgeblich von Barres breitwandigem Gitarrenspiel geprägt wurde. Der massive Riff des Titelsongs zu Beginn macht mit zwei Gitarren nochmal soviel Spaß. Schade ist allerdings, dass Barre das im Original so sorgsam aufgebaute und sich langsam steigernde Gitarrensolo hier zu einer wenig ausdrucksstarken Demonstration von Geschwindigkeits-Leistungssport umbiegt. Das passt eher für die wollüstig ausgedehnte Version des abschliessenden Allzeit-Abräumers Locomotive Breath, die die Aqualung-Retrospektive beendet.