Nicht Retro, sondern echt

Ian Gillan & The Javelins

Bandfotos, Gillan-Porträt: Copyright earMUSIC / Photocredit Dennis Dirksen

Notiz: 2018 – und wieder mal die Chance verpasst, Ian Gillan persönlich zu treffen. So ungefähr zwei Tage vorher hiess es von Seiten des Labels, man könne jetzt nach Hamburg kommen, und den Meister selbst treffen. So schnell konnte ich meine Pläne nicht umdisponieren. Also eben wieder „nur“ telefonisch. Aber wie immer ein angeregtes Gespräch, das dann in diesen Text floss. Here we go….

Ian Gillan, derzeit hauptberuflich unterwegs auf der (mutmasslichen) Deep Purple-Abschiedstour, hat mal eben auf die Schnelle einen Überraschungscoup produziert: Mit The Javelins, den Kumpels seiner ersten Band aus den frühen 60er-Jahren, hat er – wie schon 1994 – noch einmal eine Platte eingespielt, die auch schon 1963 hätte entstehen können.

Sommer 1962: Ian Gillan alias Garth Rockett singt in einer Band namens The Moonshiners, als sich Tony Tacon, Gitarrist der Konkurrenz The Hi Tones auf den Weg macht, um ihn abzuwerben. An einem Samstag morgen radelt Tacon mit einem Kumpel auf einem Tandem zu Gillan, trifft aber nur dessen Mutter an. Sie zeigt Tacon den Weg zum örtlichen Süsswarenladen, wo ihr Sohn zu einer Bandprobe mit den Hi Tones überredet wird. Kurze Zeit später heisst die Band Jess Gillan and the Javelins und macht sich in der Region um London einen Namen. Zwischen Oktober 1962 und Dezember 1964 spielen sie rund 200 Auftritte. Einer der regelmässigen Auftrittsorte ist das Wistowe House in Hayes. »Da spielten wir immer Donnerstagabend, jeder hat zehn Schilling gekriegt, also 50 Pence in heutigem Geld. Wenn es richtig rappelvoll war, waren da vielleicht 50, 60 Leute. Es gab keine Bühne, wir spielten auf dem Boden. Ich fand das damals total aufregend und wir haben uns eine ganz schöne Fanschar aufgebaut. Dann gab es Jugendclubs und die Pubs. Jeder Pub hatte einen Nebenraum, der vor allem für Hochzeiten oder Versammlungen benutzt wurde, aber auch der war sehr klein. Wir hatten ja nur sehr kleine Verstärker, zweimal 30 Watt, mit zwei 12 Zoll-Lautsprechern. Ich hatte eine PA gekauft, die reichte gerade so für diese kleinen Räume, in denen das Kondenswasser von den Wänden tropfte. Und jede Woche, wenn neue Songs herauskamen, besorgten wir uns die und spielten sie nach. Es ging ums Lernen, wie in der Schule. Mit dem Unterschied, das man jeden Moment genossen hat.«

Die Setlist der Javelins besteht vor allem aus Songs der angesagten amerikanischen Künstler: Ray Charles, Buddy Holly, The Coasters, Chuck Berry oder Sam Cooke. »Ich habe nicht im entferntesten dran gedacht, eigene Musik zu schreiben. Ich hatte ja keine Ahnung, wie das geht. Obwohl…«, er zögert kurz. »Naja, ich habe einen geschrieben, an den ich mich noch erinnere.« Er singt ihn laut vor. Es geht – wie sollte es anders sein – um ein heisses Mädschen, das doch bitte keinen Mist machen soll. Klingt gar nicht mal schlecht. »Nein, wir haben das nie gespielt«, lacht er. »Du musst erst dein Handwerk kernen. Es sei denn, du bist ein Genie. Ich musste damals ja erstmal richtig singen lernen.« Fast 55 Jahre später, im März diesen Jahres, trifft sich Gillan mit seinen Kollegen von damals im Chameleon Studio in Hamburg. Auf die Idee gebracht hat ihn Max Vaccaro, Generalmanager seines Labels. Der Sänger zögert zunächst, aber Vacaro redet ihm gut zu. »Er war sicher, das würde ein Riesen-Spass sein. Nachdem er mich so ermutigt hatte, nahm ich mit den anderen Jungs Kontakt auf, und wir haben uns 16 Songs aus unseren alten Setlists ausgesucht.« Lockeren Kontakt hatte es in all den Jahren immer gegeben. 1994 hatte sich die ganze Band zum ersten mal wieder getroffen. Das Resultat war das Album Sole Agency And Representation, das ebenfalls Titel aus der Sixties-Setlist der Band enthielt. Sowohl Label als auch der Sänger lassen dieses Werk aber – aus welchen Gründen auch immer – bei den Interviewterminen dezent unter den Tisch fallen. Die nächste Begegenung der alten Kumpels findet 2016 statt. In einem Boot schippern sie auf der Themse. »Wir haben eine Party gefeiert und über die alten Zeiten geredet. Und mit den beiden Gitarristen hatte ich die ganze Zeit über Kontakt Sie kommen auch immer wieder mal zu Deep Purple Shows.« Als sie 2018 in Hamburg ankommen, sind die Gitarristen Tony Tacon, Gordon Fairminer, der Drummer Keith Roach und Bassist Tony Whitfield bestens vorbereitet. Ihr Sänger hat mit seinem langjährigen Songschreiber-Partner Steve Morris (der auch schon das 94er-Album produziert hatte) Demos aufgenommen, die sie bekommen haben mit der Ansage, sechs Wochen lang wie verrückt zu üben. Bis auf das 94er-Album hat keiner von ihnen nach der Javelins-Zeit ernsthaft Musik gemacht. Stattdessen haben sie einfach in ihren Berufen weitergearbeitet, als Drucker, Taxifahrer oder Innenarchitekt für Marineschiffe. Berührungsängste mit dem alten Kumpel, der ein Rockstar geworden ist, gibt es dennoch auch 2018 nicht. »Nicht im geringsten. Ich denke, sie haben Respekt vor dem, was ich erreicht habe, aber von der menschlichen Seite war es wie am Anfang. Wir haben darüber in Hamburg geredet, nachdem wir mit den Aufnahmen fertig waren. Keiner von ihnen bedauert, nicht Musiker geworden zu sein. Jeder hat gesagt: Ich hatte ein fantastisches Leben, eine gute Arbeit, eine prima Familie.« Für die alten Kumpels ist der Betriebsausflug nach Hamburg eine Begegnung mit modernster digitaler Studiotechnik und Gillan ist sicher, »dass sie etwas beunruhigt waren, ob sie das im gut hinkriegen würden.« Deswegen arbeitet er mit einem psychologischen Trick. »Am Anfang haben sie die Tracks im Kopfhörer gehört, zu denen sie üben sollten. Sie spielten also zu den gleichen Demos, die sie kannten. Dann haben wir die nach und nach ausgeblendet und sie mussten auf eigenen Füssen stehen. Das ist doch, wie wenn man Fahrradfahren lernt. Erst ist die Hand des Vaters noch am Sattel, dann nimmt er sie unbemerkt weg, und du fährst allein Fahrrad.« 

Sie benutzen die gleichen Gitarren, die gleichen Verstärker wie damals – alles direkt eingestöpselt, keine Effekte. Schon nach zwei Tagen sind die Basic Tracks im Kasten, es folgen Solo-Overdubs und das Abmischen. »Diese jungen Ingenieure nehmen ja alles digital auf. Aber trotzdem hörst du, wenn ich Atem hole, bevor ich singe, du hörst das Quietschen des Bass-Drum-Pedals.« Don Airey steuert von seinem Studio in England noch einige Pianoparts bei, und fertig ist das Album, das im Sänger starke Jugenderinnerungen weckt: »Als wir anfingen aufzunehmen, konnte ich kaum glauben, was ich hörte. Sie hatten ja nicht professionell gespielt und sich deswegen nicht weiterentwickelt als Musiker. Also klang es wieder ganz genauso, wie es schon 1962 geklungen hatte. Und da wurde mir klar: das ist nicht Retro, das ist echt, das ist absolut authentisch. Ich spürte, wie sich die Haare auf meinen Armen aufrichteteten. Gänsehaut! Es war gerade, als wären wir wieder Kinder geworden. Es war wunderbar.« Für Deep Purple-Fans dürfte es höchst interessant sein, Gillan noch einmal in ganz anderen Stimmlagen und einem anderen musikalischen Umfeld zu hören. Zwar hat er auch mit Roger Glover zusammen schon pop-affine Musik erschaffen, aber diese Zeitreise ist ein erneuter Schritt zurück, der auch dem Profi einiges abverlangte. »Es war eine Herausforderung. Obwohl man ja schon einen Vorteil hat, wenn man Profi ist, merkte ich doch: Bei einem Ray Charles-Song muss ich etwas jazzy sein. Bei Bill Haley-Songs etwas zurückhaltender, bei Chuck Berry-Songs muss man mehr auf den perkussiven Klang der Worte. Also: Ich nehme mich zurück und höre auf meine Stimme und gleichzeitig, was ich damals gemacht habe, als dich diese ganzen Künstler kopierte.« Eine Tour mit dem Album hält Gillan für eher unwahrscheinlich. Eher im Bereich des Möglichen seien Kurzauftritt als Gast in der Show anderer Künstler oder im Fernshen. Oder noch ein weiteres Album. »Ich denke, mit dieser Platte haben wir das geschafft, was wir uns vorgenomen hatten. Ich hoffe mal, die Leute mögen sie um ihrer selbst willen.«