Über den Tellerrand hinausgesungen
Julia Neigel im Kammertheater, Karksruhe, 27.12.2010
Dass man einen Pop-Hit, der wahrlich nicht für die Ewigkeit geschrieben war, über zwei Dekaden nach seiner Entstehung noch am Leben erhalten kann, indem man ihm die Plastikverkleidung vom Leib reißt und ihn ganz in Mahagoni neu aufbaut, ist eine der Erkenntnisse diese Abends im ausverkauften Kammertheater.
Julia Neigel macht nach über zwei Stunde Konzert ihr „Schatten an der Wand“ zu einem Song, der bestehen kann zwischen dem zeitlosen Fremdmaterial, das sie bis dahin gesungen hat. Was die Menschen bis dahin gesehen haben, ist Julia Neigel, die Verwandlungskünstlerin, das Chamäleon mit der Riesenstimme, die diesen akustisch bestimmt für sie erbauten Raum füllt, der selbst mancher Plattitüde die Anmutung eines gültigen Statements verleiht.
„Ich bin da“ heißt der erste Song am vergangenen. Ihre Bühnenpräsenz ist in der Tat sehr „da“. Julia Neigel. die Hexe, die Furie, die Teufelin, die Tänzerin, Schmeichlerin, Brüllerin. Das kommt an, man sieht die Verblüffung in manchen Gesichtern. Gesichter, die zu einem guten Teil durch den Spielort angelockt erst ihre Julia-Neigel-Premiere erleben, und die sich im Laufe des Abends enorm begeisterungsfähig zeigen: Szenenapplaus wird zum Standardrepertoire. Die (gelegentlich etwas übermotivierte) theatralische Bühnenpräsenz der Neigel passt genau so gut in diesen Raum wie ihre Stimme. Denn sie singt die Songs nicht nur, sie lebt sie aus. Oder für den, der es eine Nummer kleiner will: Sie stellt sie dar.
Für ein solches Unterfangen bedarf es einer ebenbürtigen Band, und die hat sie zum einen in ihrem Gitarristen Joerg Dudys, dessen Spiel vordergründig Understatement ausstrahlt0, das aber jederzeit in einer Art kontrollierter Ekstase kulminieren kann. Keyboarder Simon Nicholls hält alle Fäden in der Hand, um aus dem sparsamen Instrumentarium einen sinfonischen Klangkörper, ein Kammermusikensemble oder einen hart rockenden Stoßtrupp zu machen, zudem singt er eine respektable zweite Stimme, die insbeondere eine Hymne wie Duran Durans „Ordinary World“ in die Nähe eines himmlischen Chores rückt. Die Band entkitscht den Klassiker „Hijo de la luna“, was vor allem dem Percussionisten Dala Lima zu danken ist, der in wenigen Minuten vorführt, was man aus zwei unscheinbaren Tablas herausholen kann, ohne gleich einen Volkshochschul-Workshop draus zu machen.
Ob es dem Rio-Reiser-Song „Lass uns eine Wunder sein“ wirklich gut tut, wenn Gastgeber Edo Zanki und Frau Neigel ihn dazu nutzen, das Publikum von den Stühlen zu reißen, mag dahingestellt sein. Es funktioniert jedenfalls, und wird sogar in der Zugabe nochmal, jetzt noch begeisterter, durchexerziert. Das unbestreitbare Verdienst des Konzertes liegt woanders: Julia Neigel bringt musikalische Vorlagen zusammen, die jedes Radioformat sprengen würden, und beweist, dass es ankommt. Neben dem exzessiven Blues „Love of a Woman“, der federleichten „Tänzerin“ (wieder mit Zanki) ragen die beiden Songs von Soundgarden („Black Hole Sun“) und Incubus („Dig“) heraus.
Aus den harten Rockvorlagen werden hier kantige, knarzige Höhepunkte, die gar keine verzerrten elektrischen Gitarren brauchen, um zu brodeln wie Vulkane. Dass Frau Neigel den Original-Sängern gerade in diesem Fall an Ausdruckskraft haushoch überlegen ist, macht den zusätzlichen Reiz, neben der spannenden Idee, „typisch männliche“ Musik von einer Frau gesungen zu hören. Eine ähnliche Anmutung strahlt der neue Song „Teufel“ (der beste eigene) aus, bei dem die unplugged Version die bleierne Schwere heftiger Gitarrenwände ahnen lässt. Irgendwann wird man diese Wände auch auf Tonträger hören können. Das neue, lang angekündigte Album soll nun jedenfalls „in ein paar Monaten“ erscheinen. Durchaus denkbar, dass es das erste Neigel-Album ist, dass einige der Besucher des Montagabends erwerben werden.