Letter To You
Sony I VÖ: 23.10.2020
Wie junge Götter im vollen Saft
›One Minute You‘re Here‹ macht den Anfang und führt in die Irre: Leise, introvertiert. Wird das jetzt ein neues Nebraska? Weit gefehlt. Es folgt der Titelsong, und von da an man sieht die E-Street Band förmlich zusammen Funken schlagen. Eine verschworene Gemeinschaft alter Kerle, die zusammen den Stürmen des Lebens getrotzt haben. Es ist auch eine Selbstvergewisserung in diesem Titelsong. Der davon redet, alle Ängste und Zweifel an den richtigen Adressaten gebracht zu haben.
Der Hörer darf sich (auch davon) und dem warmen und Mut machenden Organ des mittlerweile 71jährigen durchaus angesprochen fühlen. Das heute zudem klingt, als habe er noch ein paar neue Phrasierungen gelernt. Das Album transportiert das unmittelbare Erleben eines Konzertea jetzt erstmals ohne Kompromisse ins Studio. In nur fünf Tagen hat es der Boss mit der E- Street Band – angeblich sogar ohne nachträgliche Overdubs – eingespielt. Auf die Band ist Verlass: die kräftige, aber sensibel agierende Gitarrenfront von Steve Van Zandt und Nils Lofgren, die charakteristischen Pianoperlen von Roy Bittan, das stoisch relaxte, und doch zupackende Drumming von Max Weinberg. Das Spektrum der Musik ist überschaubar, aber bewährt und aufs Neue so gespielt, als sei es gerade erfunden worden. Beispiele? Getrieben von einem durchgängingen Gitarrenthema, setzt sich der ›Burnin‘ Train‹ in Bewegung, durchaus tanzbar. ›Janey Needs A Shooter‹, eine der drei bislang unveröffentlichten Neuaufnahmen von 70er-Jahre Kompositionen, breitet auf orgelschwerem Bett eine dieser Geschichten aus dem echten Leben aus und ›Ghosts‹ beginnt mit demn Worten ›I heard the sound of your guitar‹. Der dann auch folgerichtig losbricht. Hier ist sie, die Essenz. Die Freude am gemeinsamen Musikmachen. Aber auch die Trauer über den Verlust von Menschen – Erlösung, in einer unwiderstehlichen Wand aus Klang gefangen.
9/10