Progressives aus Köln

Foto-Copyright Michael Schmidt, Teldec-Bildarchiv, Musikverlag Günter B. Merkel

In den 70er-Jahren steckten vor allem englische Journalisten alles in die Schublade Krautrock, was aus Deutschland kam. Ob Can, Amon Düül, ob Birth Control und Triumvirat – mit musikalischen Kriterien hatte das wenig zu tun. Während die einen möglichst weit weg von den angloamerikanischen Vorbildern musizierten, suchten die anderen genau dort Inspiration. Zu denen gehörten die Kölner Satin Whale, die dennoch ihre ganz eigene musikalische Sprache entwickelten.

»Wir hatten Vorbilder, die uns beeinflusst haben, von Jethro Tull über Deep Purple und später auch mal Supertramp«, bekennt Thomas Brück. »Wir waren von Anfang an bemüht, genauso gut zu spielen wie die anglo-amerikanischen Kollegen. Wir haben unheimlich viel geprobt, dreimal die Woche mindestens, den ganzen Tag.« 1971 ist die Band erstmals unter dem Namen aufgetreten, zum Nukleus gehört damals neben dem Bassisten und Sänger Brück der Schlagzeuger Horst Schättgen und der Keyboarder Gerald Dellmann, der am Kölner Konservatorium studiert hat. Ebenfalls auf eine solide Ausbildung verweisen kann Dieter Roesberg, der im November 1972 die Besetzung komplettiert, die bis 1980 zusammenbleiben wird: er hat an der Universität Bonn Musiktheorie studiert und beherrscht in der Praxis ein ganzes Arsenal von Instrumenten. »Es war ja immer mein Ziel, eigene Musik zu machen. Da hab ich gar nicht lang überlegt«, sagt er über seinen Einstieg. »Dieter spielte Flöte, Gitarre, Saxophon und Mundharmonika. Deshalb konnten wir stilistisch in die eine oder andere Richtung gehen. Es gab so ein Paar Ideen, die von der Vorgängerband entwickelt worden, aber sehr rudimentär. Mit der neuen Besetzung haben wir das weiterentwickelt. Einen Plan hatten wir nicht. Wir waren von vornherein nicht so fokussiert auf einen Sound«, erinnert sich Thomas Brück.

Die Musikzeitschrift SOUNDS sieht genau das kritisch. In der Rezension des 1974 erschienen Debütalbums Desert Places ist denn auch etwas abschätzig von einem »Misch-Masch Spektakel« die Rede. Das Magazin POP hat eher verstanden, worum es geht. »Im auffallend dichten Zusammenspiel von Bass und Schlagzeug reihen sich Gitarre und Piano, Gesang, Orgel- und Saxophonpassagen in enger Folge aneinander. Besonders beachtlich einige pfeilschnelle Gitarrenläufe und die pulsierenden Orgelklänge im spannenden Wechselspiel.« Desert Places lebt in der Tat von der gut eingespielten Routine der Musiker, aber auch von einer unbändigen Improvisationslust und Entdeckerfreude, die selbst in den Studioversionen nicht zu überhören ist. Die nur fünf Songs des Albums lassen dafür viel Raum. Die Musik lässt durchaus Einflüsse von Jethro Tull oder Camel, in homöopathischer Dosis auch Santana erkennen, genehmigt sich auch gelegentliche Abschweifungen in Jazz-Gefilde – hat aber ihren ganz eigene Groove, auf dem sich Roesberg und Gerald Dellmann solistisch austoben. »Viele Riffs kamen aber von Thomas«, erklärt der Gitarrist. »Dadurch kam eine dritte Farbe rein. Er ist kein Keyboarder, aber er wusste, was geht. Das hat der Sache extrem geholfen. Wir haben gut aufeinander reagiert, und wenn wir live gespielt haben, merkten wir: Da kommt Feedback, und das hat uns wieder bestärkt.«

Noch spielt der Gesang eher eine Nebenrolle, es regiert die instrumentale Brillanz. »Ich bin ja auch nicht als Sänger groß geworden. Ich wusste, ich kann einen Ton halten, aber das Bewusstsein als Sänger aufzutreten, war bei mir nicht so ausgeprägt. Das war dann auch eher eine Notlösung«, lacht Thomas Brück. »Bass und Gesang sind ja zwei völlig verschiedene metrische Dinge, die du da in der Birne haben musst. Aber je mehr du dich mit so einer Musik beschäftigst, desto mehr geht das in Fleisch und Blut über. Dadurch kriegst du eine andere Präsenz und eine anderes Selbstbewusstsein, da kommt dann auch was über die Rampe.«

Kaum ist das Debüt eingespielt, beteiligt sich die Gruppe am Wettbewerb Rocksound 74, den der Südwestfunk veranstaltet – und wird von den Hörern zur beliebtesten deutschen Gruppe gewählt. Der Lohn ist unter anderem ein Konzert in der Friedrich Ebert Halle in Ludwigshafen – damals eine der wichtigsten Konzertarenen im Südwesten. Der SWF sendet Teile des Konzerts. »Das war ein Ritterschlag, damit waren wir in der deutschen Szene etabliert«, sagt Thomas Brück. Von da an ist die Musik von Satin Whale im Äther präsent. »Beim Pop Shop waren einige Moderatoren, die uns wirklich mochten«, sagt Dieter Roesberg. Die erste Begegnung mit Frank Laufenberg, dem damaligen Top Moderator, ist allerdings eher suboptimal: »Wir machen gerade Soundcheck, als er in die Halle kommt und sagt: Hört mal Freunde: üben könnt ihr zuhause. Wir dachten: Was will denn der Lackaffe hier und haben ihm freundlich gesagt, was wir da tun. Als das Konzert zu Ende war, war er auf einmal unser größter Fan. Er ruft mich noch heute alle paar Monate an.«

Auch Elke Heidenreich, die damals ebenfalls Pop-Sendungen im SWF moderiert, steht auf die Band. Besonders auf Thomas Brücks silberne Bühnen-Stiefel. »Die war David Bowie-Fan, und der war ja auch so eine schillernde Figur«, amüsiert er sich. Bis heute hat er noch einen sehr freundschaftlichen Kontakt mit ihr.

Im November 1974 wird der Drumhocker der Kölner neu besetzt. Horst Schättgen geht – ganz ohne Streit. »Der hatte Familie, der hatte eine andere soziale Verpflichtung. Nach der ersten Platte wollten wir das das voll beruflich machen, aber für ihn war das zu viel Unwägbarkeit. Wir haben gesagt: Wir brauchen mehr Zeit, wir müssen mehr spielen, wie sind mehr unterwegs.Wir werden öfter wochenlang im Studio sein. Wir waren wild entschlossen«, sagt Thomas Brück über die Entscheidung.

Der neue heißt Wolfgang Hieronymi. »Er hat uns überzeugt, er war ein ungeschliffener Diamant. Der hatte viele, teilweise wirre Ideen, aber er war kreativ und wir merkten, das ist ein neuer Motor.« Sein dichtes, kraftvolle Spiel gibt der Musik der Band einen neue Dynamik – zu hören auf dem 1975 erschienenen Zweitling Lost Mankind, der stilistisch nicht weit entfernt ist vom Debüt.

Für das Album hat das Label Frank Dostal als Produzenten engagiert, dessen Ratschläge die Band gern annimmt. Für Thomas Brück allerdings wird bei dieser Produktion die Zusammenarbeit mit Klaus Bohlmann besonders fruchtbar sein. Der Toningenieur, der bereits mit Udo Lindenberg und Peter Maffay gearbeitet hat, beantwortet alle seine Fragen. Denn Brück will das nächste Album selbst produzieren. »Die Teldec hat gesagt, du kannst das machen, aber der Klaus Bohlmann wir der Co-Produzent, der hat Mitspracherecht. Sie wussten ja nicht, ob ich das kann.«

Die eigenen Konzerte ziehen zunehmend mehr Zuschauer, und auf Tourneen im Vorprogramm von Barclay James Harvest, Sweet oder Uriah Heep steht Satin Whale vor noch größerem Publikum. »Hallengrößen wie Schleyerhalle in Stuttgart oder Grugahalle haben wir alleine mit Satin Whale nicht gespielt. Wir hatten Stadthallen, 1500 bis 2000 Leute, bei Festivals waren es natürlich mehr«, erinnert sich der Bassist. »Solche Jobs kamen durch Kontakte zu Konzertagenturen, da wurde nicht so detailliert drauf geguckt, ob der Stil zueinander passt. Die wollten eine gute Band als Support Act. Für uns war das egal. Für uns hieß das immer: Wir gehen jetzt auf die Bühne und fegen die weg.«

Ein Aha-Erlebnis für Dieter Roesberg ist ein Auftritt mit Sweet in der Essener Grugahalle. »Wir kamen mittags hin und draußen war schon alles voller Leute. Als wir Soundcheck gemacht haben, drückten die die Türen ein und haben die Halle gestürmt. Dann gingen wir auf die Bühne dieser total überfüllten Halle, und ich dachte erst: Ist mein Verstärker kaputt? Weil – es war so laut von unten. Aber die Musiker von Sweet standen an der Seite und meinten, das ist ja toll, was ihr da macht. Dann haben wir ihnen zugeguckt, und die hatten ja alles, was die Scorpions heute machen. Mit Pyros. Mit allem. Die ganze Folklore.« Natürlich gibt es in dieser Zeit auch andere Erlebnisse. »Damals bestanden die Manager mancher Topgruppen darauf, dass der Sound der Vorgruppen auf jeden Fall schlechter sein sollte.« Thomas Brück weiß sich zu helfen: »Ich hatte ein Ampeg Bassanlage – das war damals der Rolls Royce unter den Bassanlagen, 400 Watt-Verstärker. Die Soundleute des Topacts wollten mich nicht abnehmen. Ich hab gedacht, wartet mal Freunde. Ich hab‘ das aufgedreht, da flogen denen die Haare weg.«

Mit As A Keepsake, erschienen 1977, verändert sich die Musik der Band. Weg von überlangen Kompositionen, hin zu eingängigeren, melodiösen Songs. Ein Mainstream-Rocker (›No Time To Lose‹) hat ebenso Platz wie eine pop-orientierte Nummern (›Holiday‹) oder die üppig orchestrierte Ballade ›A Bit Foolish, A Bit Wise‹. Mit ›Going Back To Cologne‹ gibt es zudem noch einen Hauch fröhlichen Lokalpatriotismus. »Du fängst an, improvisierst, improvisierst und dann denkst du irgendwann: Vielleicht mal anders rangehen? Du probierst rum und merkst: Ah, das geht ja auch. Bei den Konzerten merkst du: oh, die kurzen Nummern kommen ja auch an«, erklärt Roesberg, und Brück ergänzt: »Uns war da schon klar: Die Zehn-Minuten-Stücke spielen die im Radio nicht. Nicht mehr. Diese Metamorphose war aber kein strategisches Ding, bei dem einer gesagt hätte: Westwärts zieht der Wind und das müssen wir jetzt so machen.«

Das im November 1977 mitgeschnittene Live-Doppelalbum Whalecome schafft es, die beiden Gesichter der Band unter einen Hut zu bringen. Für die progressive Seite steht die fast 14 Minuten lange, sehr eigene Bearbeitung des hebräischen Volksliedes ›Hava Nagila‹, die die Band schon seit den Anfangstagen aufführt. Mit langen Improvisationspassagen und einem monumentalen Schlagzeugsolo ist sie wohl das Gegenstück zu Birth Controls ›Gamma Ray‹.

A Whale Of Time, das nächste Album erscheint 1978 – und verfeinert das Konzept von As A Keepsake. Vor allem auf den Gesang wird besonders viel Wert gelegt. Dazu hat man mit Alec Johnson einen Extra-Produzenten nur für den Gesang an Bord geholt – er gibt dem Album zudem den Titel, der übersetzt so viel wie Mordsspaß oder eine schöne Zeit bedeutet. »Das war ein Motivationskünstler. Der kam nicht so sehr von der technischen Seite. Der hatte ein gutes Gehör, ein Gefühl für die richtige Atmosphäre und hat uns auch sehr geholfen beim Texte schreiben.«

Die Voraussetzungen wären nun nach Ansicht der Band gegeben, den Sprung über den großen Teich zu wagen. Triumvirat, die Kölner Konkurrenz um den Keyboarder Jürgen Fritz, haben es vier Jahre zuvor erfolgreich vorgemacht. In den USA kam ihr Album Illusions On A Double Dimple in die Billboard Charts unter die Top 40, die Band tourte 43 Konzerte lang mit Fleetwood Mac quer durch die Staaten. Thomas Brück fühlt sich beim Ehrgeiz gepackt: »Der Jürgen Fritz und ich kommen aus dem gleichen Dorf, wir kannten uns seit Kindesbeinen, und haben uns immer gegenseitig beäugt. Zwei Chefs in einem Dorf, das konnte nicht gut gehen. Das ging soweit, dass unsere Roadcrew nicht mit deren Roadcrew sprechen durfte und umgekehrt … aber wir haben uns trotzdem geschätzt. Als die dann den Sprung nach Amerika schafften, war das für uns eine richtige Herausforderung, und ich dachte: Wie geht das denn, das muss man doch auch hinkriegen. Ich war drüben und habe mit Plattenfirmen geredet. Aber es hat nicht sollen sein. Wir hätten wohl zum gleiche Zeitpunkt nach Amerika gemusst wie Triumvirat, da wäre die Zeit wohl reif gewesen…. aber da waren wir wohl wirklich zu spät dran.«

Das letzte Lebenszeichen der über acht Jahre stabilen Satin Whale-Besetzung erscheint ebenfalls noch 1978. Es ist keine eigentliches Bandalbum, sondern ein Auftragswerk – eine Filmmusik zu dem Film „Die Faust in der Tasche“. Im Mittelpunkt steht eine Gruppe von Jugendlichen im Berliner Stadtteil Kreuzberg mit all ihren Sehnsüchten und Problemen. Die Musik dazu komponiert und produziert die Band komplett in Eigenregie. »Wir hatten einen Proberaum in Köln, ein altes Kino, den wir auch an andere Bands vermietet haben. BAP hat da geprobt, Triumvirat, Jane Palmer. Als wir die Chance kriegten, diese Filmmusik zu machen, haben wir uns eine 16 Spur-Maschine gemietet und wirklich alles bis aufs Mischen dann dort gemacht. Teilweise haben wir sogar zum Film gespielt. Das war vom Klang her wohl die Beste, die wir gemacht haben«, ist Dieter Roesberg überzeugt.

Doch die großen Zeiten der Band sind bald danach vorbei. Dieter Roesberg bekommt ein Angebot , Chefredakteur des Musikermagazins Fachblatt zu werden, und nimmt es an. »Das war der schwerste Moment in meinem Leben. Machst Du’s oder machst Du’s nicht«, sagt er. »Er hatte Familie, und da war die Entscheidung klar«, wirft Thomas Brück ein, und Roesberg kontert lachend: »Und du hast mich beschimpft. Aber freundlich beschimpft.« Gleichzeitig wirft auch Gerald Dellmann das Handtuch. Noch ist Thomas Brück kampfeslustig und trommelt einen neue Besetzung zusammen, darunter auch den Sänger Barry Palmer, der zuvor für Triumvirat am Mikro gestanden hatte. Es gibt einen neuen Plattendeal, der Hoffnung macht: Polydor veröffentlicht das Album Don’t Stop The Show, das nun die endgültige Abkehr vom progressiven Rock der frühen Jahre hin zu einer eindeutigen Pop-Orientierung ist.

»Bei der Platte war, wie der Titel schon sagte, der Wunsch der Vater des Gedankens. Aber es hat nicht geklappt. Polydor war damals mit die größte Plattenfirma, die es in Deutschland gab, und die haben richtig Geld auf den Tisch gelegt für den Wechsel. Beim Unterscheiben haben wir denen gesagt: Die Fabrik in Hamburg ist bei uns immer rappelvoll. Aber in der Zwischenzeit war die neue deutsche Welle angerollt. Wir kommen in die Fabrik und da sind gerade mal 500 Leute. Die ganze Tour war bis auf ein paar Ausnahmen mau. Zudem hatten wir immense Kosten: Eigene PA, Roadcrew, das Kino als Proberaum, das war ein Riesenapparat. Uns war ziemlich schnell klar, der kann bei den mässigen Erfolgen nicht mehr bedient werden. Das war eigentlich das Ende.«

Die Bilanz der beiden, 38 Jahre nach dem letzten Vorhang, ist dennoch eine positive: »Es war ja eine unfassbare Zeit, in der wir groß geworden sind. Die ganze Musik, die wir erleben durften. Die Stones, die Beatles, das durften wir from scratch miterleben. Ich habe Jimi Hendrix gesehen. Und dass wir das dann auch noch selbst machen durften, ohne zu wissen, wie weit wir damit kommen würden«, schwärmt Thomas Brück – und Dieter Roesberg sieht es genauso: »Ich würde keine Sekunde missen wollen. In unserer Band haben wir gelernt fürs Leben, in allen Bereichen.«