„Die Atmosphäre war elektrisch aufgeladen“

Erstveröffentlichung in ROCKS, 2014

Bemerkenswerte Aktivitäten werden aus dem Deep Purple Trainingslager gemeldet: Die ersten Sessions für den Now What-Nachfolger sind gelaufen, Anfang 2015 sollen Songs aus den Ideeen werden. Unterdessen spricht Drummer Ian Paice, über den Gig seines Lebens beim „Celebrating Jon Lord“ Konzert in der Royal Albert Hall und die neuentdeckte Lust an der Studioarbeit. „Die Atmosphäre war elektrisch aufgeladen, es war ein Abend der Freude, in den sich natürlich auch Trauer mischte, weil wir einen Bruder verloren hatten. Als wir von der Bühne kamen und mit ein paar Leuten einen Drink an der Bar nahmen… da kriegten wir vor allem mit, dass sie immer noch eine Gänsehaut hatten“ beschreibt Ian Paice die Stimmung am Abend des 4. April dieses Jahres. Des Abends, an dem sich Musikerkollegen und Freunde von Jon Lord auf der Bühne der Royal Albert Hall trafen, um das Lebenswerk des Komponisten und Rockmusikers Lord zu feiern. Neben der aktuellen Deep Purple Besetzung waren unter anderen Glenn Hughes, Phil Campbell (The Temperance Movement), Paul Weller, Bruce Dickinson und Rick Wakeman beteilgt, für die Orchesterparts war Dirigent Paul Mann zuständig, der schon bei der Neuauflage von Lords Concerto For Group And Orchestra 1999 am Pult gestanden hatte.

Die Vorauswahl der Songs traf ein „Organisationskomitee“, bestehend aus Jon Lords Familie – Gattin Vicky und den Töchtern – plus Paice und dessen Frau Jacky. Das Tribute Konzert war Teil der Wohltätigkeits Veranstaltungsreihe „The Sunflower Jam“, die Jacky Paice 2006 ins Leben gerufen hatte, und die regelmäßig große Namen in neuen Konstellationen auf der Bühne zusammenbringt. Die Sänger konnten selbst entscheiden, was sie singen wollten, und siehe da: keiner wählte einen Whitesnake-Song. »Das geht auch in Ordnung«, meint der Drummer. Natürlich flossen auch die Vorstellungen der Organisatoren mit ein. So legten sie Paul Weller nahe, zwei Songs von Jon Lords 60er-Jahre Band The Artwoods seine Stimme zu leihen. Was hat aber Paul Weller mit Jon Lord zu tun, mag sich mancher Fan sowohl auf der einen als auch auf der anderen Seite gefragt haben. »Als Jacky die erste Sunflower Jam organisierte, waren die zwei Gaststars Robert Plant und Paul Weller. Er lernte Jon und mich an diesem Abend kennen, wir kamen sehr gut miteinander aus und wurden Freunde«, klärt Paice auf. »Ich habe ein wunderbares Video. Da jammen Paul, Robert Plant, Jon und ich zusammen über einen Blues.«

Grandioser Abschluß dss Abends war ›Hush‹. Die Nummer, mit der sich Jon Lords rhythmisches Hammondspiel zum erstenmal einem Massenpublikum in die Ohren gefräst hatte. In der Albert Hall teilte sich Don Airey die Arbeit mit Rick Wakeman. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass er und Jon Lord sich erst 2011 begegnet waren. »Schon seltsam, oder? Sie haben sich auch beim Sunflower Jam getroffen, haben festgestellt, dass sie die gleichen Vorlieben haben, musikalisch und auch sonst, den gleichen Humor, und sie wurden wirklich ganz enge Freunde. Sie wollten sogar ein Lord/Wakeman Keyboard-Album machen. Dann wurde Jon krank, und es kam nicht mehr dazu.« Bruce Dickinson, Deep Purple Fan seit frühester Jugend, wollte unbedingt dabei sein. »Du kannst mir glauben, auch Rock’n’Roll Stars haben noch Träume, egal wie berühmt sie sind. Für Bruce ist einer wahr geworden, als er mit Glenn zusammen ›Burn‹ singen konnte.«

Vielleicht wäre ja ein Whitesnake Song dabei gewesen, wenn David Coverdale mitgemacht hätte. Der aber war beruflich verhindert, somit entschuldigt. Ritchie Blackmore wiederum hatte sich entschieden, Jon Lord anders zu würdigen: er veröffentlichte Carry On Jon‹, eine instrumentale Hommage. Für Ian Paice geht das vollkommen in Ordnung. »Ritchie hatte sich immer seine eigene Welt geschaffen, und wenn er sich entschieden hat, es so zu machen, gibt es keinen Grund, ihn dafür zu kritisieren. Er hat etwas gemacht, das ist das Entscheidende. Wenn er mit uns auf der Bühne hätte sein wollen, wäre er da gewesen.« 

Nachdem zwischen den Deep Purple Studioalben Rapture Of The Deep und Now What?! eine Lücke von acht Jahren klaffte, erstaunt es um so mehr, dass die Band sich bereits wieder aufgerafft hat, um am Nachfolger zu arbeiten. Roger Glover und Ian Gillan werden nächstes Jahr 70, Ian Paice wird dann 67 Jahre alt sein. Da ist die Frage erlaubt, ob es das biologische Alter der Bandmitglieder ist, das die Band antreibt. Paice winkt ab: »Überhaupt nicht. Auf Tour gehen können wir, solange wir körperlich dazu im Stande sind, bis wir von der Bühne kippen. Wir haben bewiesen, dass es immer ein Publikum geben wird für das, was wir tun. Aber die letzten 25 Jahre habe ich es gehasst, Platten aufzunehmen. Es ist nur harte Arbeit, allein den Sound hinzukriegen, und dann klingt es immer noch nicht so, wie es sollte. Manchmal fühlte es sich an, wie beim Zahnarzt, wenn ein Zahn gezogen werden muss. Now What ?! aufzunehmen, hat dagegen Spaß gemacht. Und es wäre einfach schön, diesen Spaß jetzt wieder zu haben«.

Bob Ezrin hat wird wieder als Produzent an Bord sein. Er hat es geschafft, die Band organisch aufzunehmen. Er weiß, das die besten Albe die sind, die in wenigen Wochen im Kasten sind. Bei ihm sind die Grundspuren spätestens nach dem dritten Anlauf im Kasten. Zudem hat er Deep Purple ermutigt, sich auf ihre instrumentalen Fähigkeiten zu konzentrieren und die Virtuosen in der Band zu präsentieren. Ein Alleinstellungsmerkmal, befindet Paice selbstbewusst – und zugleich auch das was Deep Purple mit einer Jazz-Band verindet. »Ohne jetzt überheblich klingen zu wollen: Wir hatten immer drei Virtuosen in der Band: Jon, Ritchie und ich, jetzt eben Don, Steve und ich. Das sind vielleicht mehr als nötig für eine Band, aber das ermöglicht uns, ähnlich zu arbeiten wie Jazz-Musiker. Du musst sicher sein können, dass dein Umfeld auf dem gleichen Level musiziert, und wenn jemand eine Eingebung hat, und die Richtung wechselt, musst Du das merken. Vor allem muss man auch wieder in den Song zurückfinden. Man muss sich die Freiheit nehmen können.«

Die ganz große Freiheit steht am Anfang jedes Deep-Purple Albums. Der Drummer bezeichnet die erste Session für das kommende Album als kompletten Irrsinn. »Weil man bei jeder Idee denkt: Das hat ein Genie verbrochen. Am nächsten Tag bleiben davon noch 80 Prozent übrig, nach zwei Wochen findet man noch 50 Prozent genial, wenn man Glück hat. Und der Rest ist wirklich Müll. Aber wir haben jetzt Ideen herausgefiltert, die möglicherweise mal Songs werden können.« In den kommenden Monaten werden Ian Gillan und Roger Glover über Texten brüten, voraussichtlich im Februar sollen sich die Ideen, die bis dahin noch für genial gehalten werden, zu Songs runden – und auch zu einer als Album stimmigen Einheit, die aber auf keinen Fall ein Now What Part Two sein soll. Was auch immer auf dem Album zu hören sein wird: es wird in der Tradition der Band stehen, ohne Scheuklappen mit Ideen umzugehen. »Wir haben – manchmal zu unserem Vorteil, manchmal zu unserem Nachteil – alles probiert. Wenn eine Idee da war, wir haben sie umgesetzt. Leute, die Musik in Schubladen stecken, macht das ratlos, weil sie keine Schublade finden. Deshalb wundert es mich nicht, dass wir für die Mainstream-Medien ein Rätsel sind.« Wie offenbar auch für die Rock’n’Roll Hall Of Fame, die die Band bislang beharrlich ignoriert, während Pop-Ikone Madonna sich bereits seit 2008 Mitglied des illustren Zirkels nennrn darf. Was Ian Paice ziemlich amüsiert und mit angemessner englischer Zurückhaltung kommentiert: »Ich wünsche Ihr alles Gute, sie ist eine sehr reiche und auch sehr talentierte Frau. Auf ihrem Gebiet ist sie sehr sehr gut, jedenfalls zehnmal besser als Lady Gaga. Sie hat einige sehr gute Popsongs geschrieben – und das ist nicht leicht. Aber hat sie irgendwas in der Welt der Musik bewegt? Ich glaube eher nicht.Was uns betrifft: Auch wenn sie uns nicht aufnehmen werden, wird mein Leben trotzdem weitergehn!«