Erschienen im ROCKS Magazin, 2013

Deep Purple melden sich nach acht Jahren Studio-Abstineinz mit Now what?! Das Album ist ein musikalischer Triumph. Voller einfallsreicher Riffs, großer Melodien, und der Energie der Deep-Purple-Konzerte. Produzent Bob Ezrin hat die Band so aufgenommen, wie sie noch nie klang: ganz groß.

»Du musst bedenken, wir sind so absolut unterschiedliche Charaktere. Fünf Gegensätze, das ist Deep Purple. Wir haben keinerlei gemeinsame Ansichten oder Standpunkte – bei keinem Thema: Sei es Politik, Kultur oder Religion…. einfach bei nichts. Die einzige gemeinsame Sprache, die wir haben, ist Musik«. Die allerdings sprechen sie derzeit so fließend wie schon lange nicht mehr. Sänger Ian Gillan ist guter Dinge, die Band hat ihre gemeinsame Sprache auch im Studio wiedergefunden. Es ist Montag, 11. März, Gillan klingt sehr entspannt. Er logiert mit seinen Bandkollegen im „The Raffles“ in Singapur – einem der renommiertesten Hotels des Planeten, an dessen Hotelbar vor etwa 100 Jahren der berühmte Cocktail Singapore Sling erfunden wurde. Ein weiterer Abschnitt ihres unermüdlichen Tourlebens (allein 2011 trat die Band in 48 Ländern auf) nach der Veröffentlichung des Albums Rapture Of The Deep (2005) ist gerade zu Ende gegangen. Gillan und Bassist Roger Glover lassen die Entstehung des neuen Albums Revue passieren. 

Als Deep Purple im Sommer vergangenen Jahres zwei geplante Deutschland-Konzert absagten, war das mit der erfreulichen Ansage verbunden, die Band werde sich in die Arbeiten zu Studioalbum Nummer 19 hineinkinien. Noch ein Jahr zuvor waren sich die Musiker nicht einig gewesen, ob es überhaupt ein neues Studioalbum geben sollte. Roger Glover machte sich für neues Material stark, während Sänger Ian Gillan zunächst eher skeptisch war.

»Möglicherweise hat Ian es zu dieser Zeit so empfunden. Ich weiss es nicht«, kommentiert Glover die damalige Diskussion. Ideen kamen auf den Tisch, man solle doch nur noch einzelne Songs als Download anbieten, die Idee eines Albums sei eventuell nicht mehr zeitgemäß. Glover argumentierte dagegen. Auch, weil der mit der Produktion von Rapture Of The Deep nicht zufrieden war. »Wir hatten buchstäblich nichts, als wir anfingen. Es gab keine Vorbereitung. Wir gingen ins Studio und fünf Wochen später hatten wir ein Album. Aber sobald es erschienen war, wollte ich ein weiteres Album machen«. 

Keyboarder Don Airey erzählte im ROCKS Interview im August 2011 immerhin »Ich hab‘ jedenfalls noch keinen Ton gespielt, aber es gibt ungefähr zehn Songs«. Die Ideen hatte man im März des Jahres in einem kleinen Studio in Südspanien gesammelt. Ein Jahr später gingen die streng geheimen Vorarbeiten in einem Proberaum in Werne in Deutschland weiter.

Im Juni 2012 wird es ernst: die Band zieht nach Nashville. Mit Produzent Bob Ezrin, bekannt durch seine Arbeit mit Alice Cooper, Kiss und Pink Floyd. . Nur Steve Morse hat in seiner Zeit bei Kansas schon mit Ezrin gearbeitet, er hatte deren Album In The Spirit Of Things produziert. Roger Glover muss sich erstmal an seinen Rechner setzten und googlen, wen der Mann sonst noch produziert hat. »Vor einem Jahr spielten wir eine Kanada-Tour. Bob lebt in Toronto, und er kam, um sich die Show anzusehen: Er mochte es, er fand uns toll, und er sagte genau die richtigen Dinge. ‚Vergesst das Radio. Radio bedeutet nichts mehr, das ist eine altmodische Idee, Airplay und damit einen Hit zu kriegen. Ihr müsst für euer Hardcore-Publikum spielen. Ihr seid als Musiker stark, und diese Stärke solltet ihr ausspielen‘. Er sagte auch, wir sollten mehr in die Breite gehen. Ob das nun heissen sollte, längere Songs, oder gewagtere oder andere Musik, hat er nicht definiert. Er fragte uns, was wir von dem Album erwarteten. Ich sagte: Es sollte mehr Tiefe haben, das ist schließlich Bestandteil unseres Namens. Wir sollten unsere eigene Atmosphäre kreieren, nicht einfach einen Riff, ein paar Schreie und Soli hinaushauen«.

Ab diesem Moment geht es darum, nicht zur Formel zu erstarren. Eine Gefahr, die einer Band mit einer Jahrzehnte langen Karriere bewusst sein sollte. Die Gefahr, im schlimmsten Fall zur Selbstparodie zu verkommen. »Mit einem solchen Produzenten konnten wir die Gelegenheit beim Schopf packen: Wir wollten ihn beeindrucken. Auf diese Weise kriegten die Probe-Sessions eine ganz neue Bedeutung. Ezrin war also eine inspirierte Wahl. Im Sinne eines Abenteuers«.

Das Abenteuer beschreibt Ian Gillan als ein „Zurück zu den Wurzeln“: »Wir sind ja nicht besonders gut in Planung, aber hier gab es einen Plan: Wir beschlossen, genauso heranzugehen wie bei Deep Purple in Rock, Fireball und Machine Head. Damals haben wir der Musik erlaubt, sich zu entwickeln. Auf der Bühne machen wir das jeden Abend. Was den Gesang betrifft, auch da war es ein wenig wie wir es am Anfang gemacht haben. Es ist weniger song-orientiert, sondern wird eher von der Musik, den Instrumenten angetrieben. Ich fühle mich gerade, als hätte ich ein wildes Pferd bestiegen, und es hätte mich zu einem Ausritt mitgenommen, nicht umgekehrt«.

Wieder einmal sind es diese magischen Riffs, die der Musik Erdung und zugleich Flügel verleihen. Deep Purple ist fast so alt wie die Erfindung des Hard-Rock-Riffs, das die Kinks, die Rolling Stones oder Cream zur Basis von Charts-Erfolgen machten. Eigentlich ist schon alles erfunden und tausende Male wiedergekäut, sinniert Roger Glover. »1001 Band schreiben Riffs und sie sind alle Variationen über die selben vier oder fünf Noten. Auf unserem Album, glaube ich, haben wir einige wirklich interessante, ungewöhnliche und trotzdem einfache Riffs geschaffen. Ich bin ziemlich stolz, dass ich da keine Standard-Rock-Riffs von der Stange höre«.

Ezrin will die Band so haben, wie er sie auf der Bühne erlebt hat. Er lässt sie alle Tracks zusammen aufnehmen, meist reichen einer oder zwei Durchläufe, danach kommen ein Paar Overdubs und Gesang dazu. »Es gibt keinen Take 29«, schmunzelt Glover. Ezrin will, dass sich die Musiker gegenseitig beim Spielen anfeuern und heiß machen. Was man jetzt besonders gut beim Intro zu ›Uncommon Man‹ hört. »Man hört, wie Steve abwartet, was Don als nächstes spielt, und umgekehrt«. »Niemand hat irgendetwas mit jemandem abgesprochen, es war völlig improvisiert«, ergänzt Gillan. »Ich denke, es hat eine Weile gebraucht, bis wir so ein unterbewusstes Verständnis erreicht hatten, das ist die Belohnung für die ganzen Touren. Wir denken inzwischen alle als eine einzige Person«. 

Die Arbeit im Studio beginnt immer um die Mittagszeit, gegen drei Uhr Nachmittags gönnt man sich eine Tasse Tee. Nashville ist nicht nur eine pulsierende Musikmetropole, in der man Bands sehen kann, die in Schaufenstern auftreten, sondern im Sommer 2012 eine heiße Stadt mit Temperaturen knapp unter 40 Grad. Vielleicht, scherzt Ian Gillan, seien deshalb auf Now What?! keine wirklich schnellen Nummern zu finden. Dafür überrascht die Band mit intensiven atmosphärischen Szenenwechseln. Schon der Einstieg zu ›A Simple Song verblüfft: Es klingt ein Intro zu einem der epischeren Iron Maiden Werke – und das von einer Band, die immer betont, mit Heavy Metal nichts am Hut zu haben. Ian Gillan gibt sich ziemlich verblüfft: »Ach? Wirklich? Das hab‘ ich noch nie gehört!« Schockiert? »Äh…. ja! Das ist eine große Überraschung…. das muss ich mal recherchieren«.

›Blood from A Stone klingt bedrückend und markiert die andere Seite des musikalischen Spektrums. »Es ist ein dunkler Ort«, sagt der Sänger, aber kein mystischer, denn der Text hat ganz reale Bezüge. »Wir hatten eine Menge Probleme mit Banken, Menschen, die andere Menschen ausbeuten und in Geldnöte stürzen. Ich sehe ein Menge kleine Leute, die ihre Häuser verlieren, ihr Geschäft. Du kannst kein Blut aus einem Stein pressen, aber genau das wollen sie, sie wollen dich auf dem Boden sehen. Als ich es Roger zeigte, dachte er, es wäre über eine ganz bestimmte Person. Ich sag‘ besser nicht, über wen….«.

Was ein schlagender Beweis für Roger Glovers These über Deep-Purple Lyrics ist: »Unsere Texte sind meist mehrdeutig. Da gibt es viel Raum für Symbolik, quasi um die Ecke gedacht zum Thema zu kommen. Wir reden immer darüber, worum es „wirklich“ geht, und versuchen dann genau das zu verstecken. Die Leute sollen sich dann ihren eigenen Reim drauf machen«.

Kürzlich habe er sich mal wieder ›Anyones Daughter‹ (vom Fireball Album) angehört, und er habe herzlich lachen müssen, erzählt Ian Gillan. Ja, Humor spielt nach wie vor eine große Rolle in den Texten der Herren Gillan und Glover, und dieses Mal haben sie ihr Potenzial in einen Song über den amerikanischen Horror-Film-Star Vincent Price gepackt. Ein Stück, das musikalisch in Richtung Alice Cooper schielt: »Roger und ich hatten einen Riesenspaß dabei, den Text für ›Vincent Price‹ zu schreiben. Wir haben uns das als Hammer-Horror-Film vorgestellt, und uns als Regisseur und Produzent des Films. Dann haben wir aufgeschrieben, welche Zutaten wir in dem Film haben wollten: Ketten, die am Boden entlang geschleift werden. Eiserne Tore, Blitz und Donner, Zombies, Vampire, Jungfrauen-Opfer«.

Als man ›All The Time In The World‹ im März via Internet hören kann, sind einige Fans irritiert. Der Song ist sooo relaxed und ziemlich Deep Purple-untypisch, eine ganz harte Nuss für Schubladendenker, kein Problem aber für den Sänger: »Ich habe ja ausserhalb des Rock-Kontexts eine ganze Menge Sachen gemacht, die in keine Kategorie passen. Wenn du an die Musik denkst, die uns als Kids beeinflusst haben, dann ist es nur natürlich, wenn da etwas entsteht, was jazzig klingt, oder leichtfüßig daher kommt… oder nach Blues, Soul, Funk, Rock’n’Roll. Für mich klingt es fast wie ein Kinks Song, wie ein Sixties-Pop-Song, wie Waterloo Sunset‹. Du merkst, ich suche verzweifelt nach einer Kategorie, nach etwas, woher das kommen könnte. Die Wurzeln dieses Songs liegen auf jeden Fall so weit in der Vergangenheit«.

Gilllan hat seine Stimme selten so variabel eingesetzt. Bob Ezrin verlangt immer wieder mal „mehr Leidenschaft“. »Er benahm sich wie ein Filmregisseur. Ich fand ihn sehr amüsant«. Der Produzent hört zu, wenn Gillan „ins Unreine“ singt, er ermutigt ihn, andere Tonlagen zu probieren und ist vor allem ehrlich: »Der sagt dir ins Gesicht: ich mag diesenText nicht«. Der Sänger schreibt einen neuen Text, der Produzent meint: Das ist in Ordnung, aber es ist nichts Besonderes. Gillan tigert nachts mit mit einem Stück Papier und einem Stift in der Küche um her, wartet auf Inspiration, schläft ein bisschen, und freut sich, wenn die Idee nach dem Aufwachen dem Producer gefällt.

Am 14. Juli 2012, dem Tag, an dem das improvisierte Intro zu ›Uncommon Man‹ entsteht, erfahren die Musiker, dass Jon Lord auf die Intensivstation eingeliefert wurde. Zwei Tage später kommt die die Nachricht von Tod des Mitbegründers der Band. Lord hat nach seinem Ausstieg immer den Kontakt zur Band gehalten. Lords Ehefrau und Ian Paices Gattin sind Zwillingsschwestern, dadurch gibt es auch familiäre Verbindungen. Glover hat noch sechs Wochen zuvor mit dem Organisten telefoniert, der optimistisch war und Pläne machte. »Natürlich waren wir vorbereitet. Aber man kann noch so vorbereitet sein, man ist nie vorbereitet. Es war eine sehr merkwürdige Atmosphäre«. »Wir haben uns alle umarmt«, erinnert sich Gillan. »Erst wurden wir ganz still, und dann redeten wir von den guten Zeiten, Anekdoten machten die Runde. Nach und nach hellte sich die Stimmung auf, und man spürte, dass er da war. Er war in gewisser Weise immer noch Teil der Band. Ich schrieb noch am gleichen Nachmittag eine Zeile, die in dem Song ›Above and Beyond‹ vorkommt, die sich darauf bezieht »Souls having touched are forever entwined« (Seelen, die sich berührt haben, sind für immer miteinander verbunden). Das habe ich auch bei seiner Beerdingung gesagt. Als mein Vater starb, war sein Geist plötzlich unglaublich präsent. Stärker als seine körperliche Anwesenheit zuvor, und ich hatte wirklich das Gefühl, er sei in mich hineingeschlüpft und ist seither bei mir. Das gleiche Gefühl habe ich auch mit Jon«..

Ende Juli ist die Musik aufgemommen, wenige Woche später auch der Gesang.

In diesem Jahr werden die Deep Purple der Nach-Blackmore-Zeit 20 Jahre alt. Deutlich länger , als die Band mit dem Mann in Schwarz an der Gitarre zusammenarbeitete, der am 17. November 1993 in Helsinki zum letzten Mal mit der Band auf der Bühne stand. Im Jahr 20 nach Blackmore haben Deep Purple mit Steve Morse an der Gitarre nun ihr fünftes Studioalbum am Start, das dritte mit Don Airey an den Keyboards und Ian Gillan befindet, man habe jetzt den Punkt erreicht, an dem alle wieder gleich sind, an dem die Balance in der Band wieder perfekt ist.

Daran ändert auch nichts die Angewohnheit von Steve Morse, immer von der Band als „Ihr“ zu sprechen: »Ich sage, dann immer: nein! nein! Wir!« lacht Roger Glover. »Steves historischer und musikalischer Hintergrund ist ein ganz anderer« rekapituliert Ian Gillan die erste wichtige Umbesetzung 1994, und Glover erinnert sich an seine erste Begegnung mit dem Amerikaner: »Er fragte mich: Was erwartet Ihr von mir? Ich sagte: Wir wollen, dass Du Du selbst bist. Man kann nicht in einer Band spielen, und tun, als wäre man ein anderer. Steve unterstützte und ermutigte uns. Ich habe von ihm viel über das Bassspielen gelernt. Er spielte Sachen, da war ich überzeugt: Da kann ich nicht mit. Und er sagte einfach: Oh, doch du kannst das. Dann nahm er sich zehn Minuten Zeit und brachte es mir bei. So etwas war nie zuvor passiert. Das stärkt auch dein Selbstvertrauen.Purpendicular war ein herausragendes Album, nicht nur die Musik. Nachdem wir zehn Jahre den schrittweisen Abstieg der Band miterlebt hatten, blühten wir mit diesem Album auf. Wir wurden eine andere Band«.

Die nächste Herausforderung war der Abschied von Jon Lord, der des Tourens müde 2002 seine Orgel an Don Airey übergab. Ian Gillan hatte es kommen sehen: »Ich sage das mit dem größten Respekt vor Jon: Er verlor das Interesse. Als er sich entschied, nicht mehr mit uns auf Tour zu gehen, und Don kam, fühlte sich das an wie eine Energie-Explosion. Genau das, was wir brauchten. Das mindert Jons Verdienste in keinster Weise und ich glaube, er ist auch zur richtigen Zeit gegangen«. Zu Don Airey habe es nie eine ernsthafte Alternative gegeben. »Wir waren uns sofort einig, dass er der einzige wäre, der für den Job in Frage käme. Eine Hammond-Orgel ist ein wildes Tier und man muss ein ganzer Kerl sein, um sie zu spielen«. Genauso, wie man bei der Neubesetzung des Gitarristenjobs einen neue Klangfarbe einführte, habe man auch beim zweiten Bestzungswechsel gehandelt, betont Roger Glover: »Don klingt für mich völlig anders als Jon. Die einzige Ähnlichkeit ist, dass eine Orgel eben wie eine Orgel klingt. Jon spielte viel bluesiger, während Don viel jazziger ist«.

Auf eine Einzelkritik der Alben seit Purpendicular will sich Roger Glover nicht einlassen, aber »manche sind eben befriedigend, manche nicht. Als wir Bananas machten, hatten wir einen Produzenten, der Deep Purple als Markenzeichen betrachtete. Er fand, wir sollten so klingen, wie wir einmal klangen, und schob uns sanft in diese Richtung. Einige Songs auf Rapture of the Deep mag ich sehr, aber es klang einfach nicht gut. Aber es gibt eben Höhen und Tiefen im Leben, und es gibt sie auch in der Musik. Im Moment ist es jedenfalls ein Höhepunkt, definitiv«

Es soll nicht der letzte bleiben. Glover findet Spekulationen, ob Now What?! möglicherweise das letzte Album sein könnte, absurd: »Das ist doch Bullshit. Wenn wir wirklich ein letztes Album aufnehmen würden, dann würden wir es planen… aber wie Ian sagt: Wir sind nicht gut in Planung. Wir können ja nicht mal unsere eigene Pensionierung planen. Wer weiß, wann das letzte Album kommt. Vielleicht wir es uns alle überraschen«. Wenn es nach Glover geht, würden Deep Purple schon 2014 wieder ins Studio gehen und einen Nachfolger für Now What?! Einspielen. Bob Ezrin jedenfalls hat der Band bescheinigt, in ihr stecke noch sehr viel ungespielte Musik.