Musik mit Schmetterlingseffekt

Wer in Frankreich blind einkauft, was unter „Rock Francais“ einsortiert ist, wird gelegentlich überrascht, wie weit gefasst die französische Definition dessen ist, was Rock sein darf. Ähnlich verhält es sich im Sektor „Rock Progressif“. Wen man Glück hat, trifft man auf eine Perle wie Lazuli, die gerade ihr neuntes Studioalbum veröffentlicht haben.

Und es ging eine Botschaft aus von einer einzigen Note, die ein einziger Musiker auf einer einsamen Insel spielte. Aus der Note wird eine Melodie, die Melodie verbreitet sich wie eine Flaschenpost. Das ist die romantische Idee, die die Band aus Südfrankreich auf Le Fantastique Envol De Dieter Böhm entwickelt. »Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen?« Diese Frage stellte der amerikanische Mathematiker und Meterorologe Edward N. Lorenz im Bezug auf Wetterprognosen, um den sogenannten Schmetterlingseffekt zu veranschaulichen. »Dieser Vergleich gefällt mir sehr«, sagt Dominique Leonetti, Sänger, Komponist und Texter von Lazuli. »Es stimmt ja: Wenn man ein Lied auf einem mickrigen Blatt Papier schreibt, allein in seinem stillen Kämmerlein, dann ist es schwer vorstellbar, dass das bei irgendjemand da draussen ein Gefühl auslösen könnte. Aber dieser Schmetterlingseffekt hat unerwartete Folgen. Es ist wie ein Geschenk, das einem in den Schoß fällt.«

Dass Lazuli anders sind und nicht nur das genreübliche, überwiegend männliche Publikum begeistern, sieht man bei ihren Konzerten. Die Frau, das weiss der erfahrene Nerd, der sich 19/8-Takte auf die Schenkel hauen kann, ist normalerweise nicht prog-affin, aber hier ist sie präsenter als bei Spocks Beard oder Transatlantic. Auf die Frage, ob es denn typische Fans gebe, antwortet Leonetti zuerst mit einem Scherz, der auf das Album-Cover anspielt. »Unser typischer Fan trägt einen Schnurrbart und reitet auf einem Dodo! Nein, im Ernst: Unsere Fans haben eines gemeinsam: Sie sind sehr schön, und das meine ich vollkommen ernst. Es sind Freigeister, die sich die Musik suchen, die sie lieben, und nicht die, die ihnen von den Massenmedien diktiert wird. Es sind offene und sensible Menschen. Gäbe es mehr von ihnen, wäre das gut für den ganzen Planeten.«

Einer dieser Menschen ist Dieter Böhm, ein Fan seit einem Tag in Februar 2012. An jenem Tag besucht er zum ersten Mal ein Konzert der Band, und ist vollkommen überwältigt. »Dieter Böhm hätte auch eine erfundene Person sein können, aber er existiert wirklich«, betont Leonetti. »Wir haben ihn in mitten in der Menge bemerkt, er hatte die Augen geschlossen, und die Musik schien ihn zu überwältigen. Einer von uns meinte: „Habt ihr den Typen gesehen? Ich habe gesehen, wie seine Füsse vom Boden abgehoben sind.“ Dieser Satz hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt und war der Auslöser für dieses Album. Wir haben ihn später nach einem Konzert kennengelernt, und die Begegnung hat mich gelehrt, dass unsere Musik eine Bedeutung für manche Menschen hat, die ich gar nicht ahnte. Als könnten wir uns gegenseitig retten. Aber jenseits von Dieter Böhm ist das Album eine Liebeserklätung an alle unserer Hörer, ohne die unsere Musik überhaupt nicht existieren würde. An all jene, die die Songs aufgesammelt haben, die wir als Flaschenpost ins Meer geworfen haben.«

Der fantastische Flug des Dieter Böhm (so der Albumtitel auf Deutsch) ist ein hochmelodischer Trip, der die Lazuli-Weltmusik dieses Mal einen Tick zugänglicher, melodiöser fortschreibt als bisher, das alles in durchweg gemächlichem Tempo. Die Musik lässt sich Zeit, um Bilder im Kopf entstehen zu lassen. »Wir versuchen immer mal wieder, mit anderen Tempi zu arbeiten, aber die Texte bremsen uns aus. So, als ob die Melancholie der Worte einfach nicht mit schneller Musik zusammen passen würde. Als wollte mein Unterbewusstsein rebellieren gegen diese zu schnelle Welt. Ich mag Stimmungen, die entweder tief im Boden verwurzelt sind, oder im Gegenteil – freischwebend in der Luft oder den Ozeanen. Vielleicht liegt das ja in meinen Genen, ich stamme vom Fisch und vom Vogel ab.«

Die Südfranzosen haben ihr ganz eigenes Verständnis von progressiv‹. Sie drehen das Rad der elektrifizierten Kunstmusik ein paar Umdrehungen weiter, ohne dabei Hörgewohnheiten, die stets nach dem Schönen, Barocken sich sehnen, bis an die äussersten Grenzen zu strapazieren. Aber sie dehnen sie. Dabei setzen sie weniger auf epische Songstrukturen (auch die gibt es) sondern mehr auf repetitive, eindringliche Grooves. »Unsere Musik kommt aus dem Bauch und dem Herzen, nicht nur aus unseren Köpfen. Wenn man Musik ein Etikett gibt, ist das immer eine Einschränkung. Aber ich nehme mit einem gewissen Stolz das Etikett progressiver Rock an, denn diese musikalische Familie hat uns mit offenen Armen empfangen. Mir gefällt die Idee eines Dorfes, in dem jeder den anderen kennt und wertschätzt. Ich kann nur hoffen, dass diese Familie nicht irgendwann ins Elitäre abdriftet, sondern offen in alle Richtungen bleibt und nicht vom Snobismus erstickt wird.«

Auch wenn die Musik der Band Anklänge an prominente Vertreter des französischen Rock Progressif – wie etwa Ange enthält – war der musikalische Urknall für Dominique Leonetti im Teenager-Alter der Beatles-Song ›A Day In The Life‹. »Aber in jeder Phase meines Lebens gab es Songs, die mir das Gefühl gaben, nicht allein zu sein in meiner menschlischen Existenz. Das braucht man als Jugendlicher ganz dringend. Als 15jähriger hatte ich im Walkman ›Touch Too Much‹ von AC/DC, ›Mama‹ von Genesis, ›Love Over Gold‹ von Dire Straits, ›School‹ von Supertramp und eine ganze Menge anderer Songs, die mir aus dem Schlamassel geholfen haben.«

Kurz nach dem per E-Mail geführten Interview musste die Band wegen der durch das Corona-Virus bedingten Grenzschliessungen ihre Tour im Vereinigten Königreich abbrechen, kurz danach erfuhren sie auch noch von der Absage des Glastonbury Festivals 2020, für das sie gebucht waren. Eine Riesen-Enttäuschung für die Band. Die Tatsache aber, ausserhalb des Mutterlandes als französisch singende Band inzwischen gefragt zu sein, macht den Frontmann merklich stolz. »Wir hatten immer wieder gehört, dass es ein Exporthindernis sein könnte, wenn man französisch singt. Wenn es sich nicht zufällig ergeben hätte, hätten wir wohl auch nie gewagt, ausserhalb unserer Landesgrenzen zu spielen. Die Geschichte von Lazuli zeigt, dass es durchaus von Vorteil sein kann, wenn man diesen Unterschied offen zeigt. Ich denke, dass die Musik, die Melodien zählen. Es gibt eine universelle Sprache jenseits der Worte. Ich bin überzeugt, die Menschen merken, ob das, was man singt, wahrhaftig ist oder nicht. Vor vielen Jahren kam mal ein Amerikaner nach einem unserer Konzerte in Mexiko zu uns und sagte: Ich verstehe kein Wort französisch, aber mein Herz hat alles verstanden, was ihr mir sagen wolltet. Es ist fast Ironie des Schicksals, dass sich Frankreich jetzt mehr für uns interessiert, weil wir auch ein Leben ausserhalb unserer Landesgrenzen hatten!«