Frontalangriff auf Herz und Hirn

„Suchtpotenzial“ im Tollhaus, Karlsruhe, 16.11.2019

Foto: Copyright Tollhaus Karlsruhe / Foto von 2021

2011 haben sich Ariane Müller und Julia Gámez Martin am Theater in Ulm kennengelernt, bei der gemeinsamen Arbeit an den Musicals „Hair“ und „Rocky Horror Show“. So ausgestattet mit dem Handwerkszeug, das man als Musicaldarstellerin nun mal drauf hat, müssen sie ihre komischen Talente entdeckt haben, die sie seither in ihrem Joint Venture Suchtpotenzial konsequent und zunehmend erfolgreicher weiterentwickeln. Ihr Frontalangriff auf Herz und Hirn bedient sich aller Mittel der Darstellungskunst: Gámez Martin ist vor allem als Sängerin eine Kanone, die öfter mal eskaliert, Ariane Müller gibt die inspirierte Furie am Klavier. Beide zusammen haben ein nie versagendes Gespür für das richtige Timing, das sie auch in den improvisierten Momenten nie verlässt. Wobei man immer den Eindruck hat, dass das scheinbar Spontane exakt einstudiert ist. Und umgekehrt.

Wie man sich in der von vielen mehr oder weniger talentierten Künstlern bevölkerten Sparte Musikkabarett nach oben kämpft, erklären sie gleich zu Beginn ihres Programms „Sexuelle Belustigung“, das sie am Samstagabend im ausverkauften kleinen Tollhaus-Saal zelebrierten. „Wir kennen jetzt jede Autobahnausfahrt in diesem Land!“ Sie hätten zudem sogar überall dort gespielt, wo grüne Ortsschilder stehen. Denn die „Ochsentour“ sei nun ma eben nicht das Abenteuerland von Pur.

Theoretisch wüssten sie ja schon, wie man Stadien begeistert. Sie kennen die Mechanismen der Massenbeglückung und nehmen sie hinterfotzig auseinander. Ariane kündigt einen Song an, der garantiert allen gefällt, und dass jetzt gleich eine Atmosphäre wie bei Bruce Springsteen entstehen werde. Der Refrain: „Freundschaft, Freiheit Kartoffelsalat“ ist in der Tat massenkompatibel. Kaum gesungen, beginnen sich die Künstlerinnen zu zanken: Schwäbischer Kartoffelsalat (Müller) versus Berliner Kartoffelsalat (Gámez-Martin). Nur noch Spaltung allüberall. Da passen doch ein paar süffisant kommentierte Hassmails: Schweine im Dreck seien sie, die der Frühsexualisierung Vorschub leisteten, schreibt einer.  Vielleicht hat der die charmanten Erklärungen gehört, mit denen sie der Lüge widersprechen, sie hätten sich hochgeschlafen. Kann nicht sein, verraten sie: Sie würden nur noch mit vollkommen einflusslosen Praktikanten schlafen. Seitdem standen sie Schlange bei ihnen für ein Kultur-Praktikum. Rache kann süss sein, auf Suchtpotenzial-Art. Manchmal auch mit dezentem Pflegejazz unterlegt, wie im Song „Paybackmood“: Man könnte doch auch mal bei der Telekom anrufen und acht Stunden Musik laufen lassen oder einen Polizisten fragen, ob er getrunken hat.  Denen, die schon ob des Programmtitels eine gewisse Versautheit erwartet haben, sind sie gleich zu Beginn des Abends mit der Ansage entgegengekommen „Pimmelwitze, Brüste und Ficken sind moralisch vertretbar“. Denn bei ihnen regiert auch „südlich der Gürtellinie“ das Hirn und nicht zuletzt auch Haltung. Der Hit, den kein Radio spielt steht als Zugabe ganz am Ende des Programms und heisst „Ficken für den Frieden“ und ist vielleicht ein entfernter Verwandter von Tucholskys „Rosen auf den Wege gestreut mit der berühmten Zeile: Küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft!. Bei Suchtpotenzial gibt es schon deutlich konkretere Handlungsanweisungen ans Publikum: „Du und du und du – kannst es einem besorgten Bürger besorgen, du kannst auch zärtlich einen Faschisten fisten“. Und alle singen mit.