Das Chamäleon beißt zu

Foto-Credits: Titelbild Copyright Andrew Hobbs, Porträts im Beitrag: Copyright Lasse Holle

Auf seinem sechsten Solo-Album The Future Bites hat das musikalische Chamäleon Steven Wilson wieder einmal seine Farben gewechselt, dieses Mal gründlicher als je zuvor. Das Werk wird polarisieren, denn Wilson versteckt die Gitarren und baut seine musikalische Welt fast ganz auf elektronische Grooves und Sounds.

Du hast in den ersten Interviews zu The Future Bites betont, du wolltest ein Album machen, das nur im heute existieren kann. Das bedeutet genau was?

Das ist ein sehr allgemeines Statement. Ich wollte damit vor allem darauf hinweisen, dass die letzten Alben, die ich gemacht habe, jeweils eine ganz bewusste Hommage an vergangene Musikstile waren. Bei diesem Album dachte ich, dass es jetzt an der Zeit sei, damit aufzuhören, der Vergangenheit Tribut zu zollen und etwas zu schaffen, das wirklich nur in meinem ganz eigenen Universum existieren kann. In dem Sinne, dass ich im Jahr 2020 – oder genauer gesagt 2019 – ein Album aufnimmt, das wirklich sehr nach seiner Entstehungszeit klingt. Aber es hat immer noch offensichtliche Hinweise auf meine musikalische DNS, das nennt man Persönlichkeit. Aber ich glaube wirklich, dieses Album klingt sehr nach seiner Zeit. Nicht nur, was die Textinhalte betrifft, sondern auch durch das musikalische Vokabular, das ich benutze.

Einer der Gründe, warum dieses Album so zeitgemäss klingt, könnte deine Zusammenarbeit mit David Kosten sein, der mal von einem Journalisten als einer der „klangtechnisch abenteuerlustigsten Produzenten Großbritanniens“ bezeichnet wurde…. Er hat ja auch das Album abgemischt, was bislang immer die selbst gemacht hast. Was steckt dahinter?

Das stimmt. Also sagen wir mal so: Er hat es abgemischt, während ich die ganze Zeit auf seinen Schultern sass. David kenne ich seit ungefähr 25 Jahren. Witzigerweise haben wir beide in den 90er-Jahren angefangen, unseren Lebensunterhalt mit Musik für Fernsehwerbung zu verdienen. Wir waren oft Konkurrenten im Wettbewerb um die gleichen Aufträge: Lego, Sony Play Station, solche Sachen. Wir waren also Teil der gleichen Welt. Damals wurden wir Freunde, und ich habe von da an seine Karriere aufmerksam verfolgt und war sehr beeindruckt, wie sich seine Talente als Produzent entwickelt haben. Er hatte eine ganz eigene Klang-Signatur. Das Interessante ist: Er ist ungefähr genauso alt wie ich und wuchs also mit der gleichen Musik auf, wurde von den gleichen Sachen inspiriert. Das passierte in seinem Leben zur gleichen Zeit wie in meinem. Daher kommt sein sehr breiter Background, sein enormes musikalisches Wissen. Was uns allerdings unterscheidet: Er ist kein solcher musikhistorischer Nostalgiker wie ich. Er ist immer auf der Suche nach neuen Klängen und versucht, Referenzen an die Vergangenheit bewusst zu vermeiden. Und ich hatte das Gefühl, ich bräuchte jetzt wirklich jemanden wie ihn. Jemanden, der mich daran hindert, wieder in meine Komfort-Zone zurückzufallen, auf diesen Teil meiner musikalischen DNS, in der ich mich immer wieder auf die Musik zurückbesinne und beziehe, die ich liebe. Er versucht immer, Dinge zu tun, die er nie zuvor gemacht hat. Es war sehr inspirierend, mit ihm zu arbeiten.

FOTO COPYRIGHT LASSE HOLLE

Als ich mir das Album angehört habe, war mein erster Eindruck: Da gibt es ja gar keine Gitarren. Aber wenn man genauer hinhört, sind da sehr viele Gitarren, aber sie sind versteckt. Nun kennt jeder die vertrauten Klänge von Gitarren, also versuchst du wohl, von dieser Idee ein wenig wegzukommen. Aber hier spiele ich jetzt mal den Advocatus Diaboli: ist das nicht ein bisschen, wie wenn man sich selbst ein Bein absägt? Weil man dich ja schließlich auch als Gitarristen kennt? Mich hat das auch an das dritte Album von Peter Gabriel erinnert, als er Phil Collins als Drummer einlud, aber ihm Becken und Hi-Hat verboten hat.

Dazu kann ich eine ganze Menge sagen. Hör zu….. Oh, Entschuldigung, ich sage immer: Hör Zu, bevor ich irgendwas sage. Ich verspreche, es nie wieder zu tun. Wir leben heute in einer Welt, in der es eine Unzahl verschiedener Möglichkeiten gibt, Musik zu machen. Es gibt wirklich keinen Klang, den man nicht vorstellen könnte, den man nicht einfach dadurch erzeugen könnte, das man die richtige Software hochlädt oder den richtigen Knopf drückt. Paradoxerweise wird die musikalische Welt aber gerade dadurch kleiner. Vieles von der Musik, die heute produziert wird, hat überhaupt nichts Experimentelles, nichts Innovatives, oder ist nicht zumindest auf der Suche nach etwas Neuem. Du hast vollkommen richtig das Beispiel von Peter Gabriels drittem Album erwähnt: Manchmal helfen gerade Beschränkungen deiner Kreativität deiner Vorstellungskraft auf die Sprünge. Immer wenn ich mich in den vergangenen Jahren mit einer Gitarre hingesetzt habe, hatte ich das Gefühl, ich hätte mit diesem Instrument schon alles gesagt. Und ich glaube, mit dieser Erkenntnis bin ich nicht der Einzige. Wenn du Dir die gesamte gegenwärtige Rockmusikszene anschaust, dann scheint es, als kämpfe sie darum, sich neu zu erfinden. Das war eine der großartigen Sachen der Rockmusik, dass sie sich immer wieder neu erfunden hat, angefangen mit den 60er Jahren: Psychedelia, progressive Musik, Punk Rock in den 70er Jahren, dann in den 90er Jahren mit der Grunge Szene: Es gab immer das Gefühl, man kann mit der Gitarre etwas Neues erschaffen. Bis zum 21. Jahrhundert. Mit scheint, dass die Rockmusik es in diesem Jahrhundert nicht geschafft hat, sich zu erneuern. Das spiegelt sich deutlich wieder in der Musik, die die jüngere Generation hört. Der Mainstream ist fast ausschliesslich Urban Music. Vielleicht war das ja unvermeidlich, ähnlich ist es in der Vergangenheit mit dem Jazz passiert. Vielleicht musste irgendwann dieser Punkt erreicht werden, an dem mit der Gitarre schon alles gesagt ist. Ich jedenfalls habe diesen Punkt erreicht. Alles, was ich auf der Gitarre spiele, klingt als hätte ich oder irgendjemand anderes es schon mal gemacht. Konsequenterweise fand ich es viel inspirierender, meine musikalische Palette zu limitieren und mich dazu zu zwingen, ein anderes musikalisches Vokabular zu nutzen, und dabei meinen ganzen Sound und meine ganze musikalische Welt neu zu denken. Ich sage limitieren, obwohl elektronische Musik fast endlose Möglichkeiten bietet.

Wenn wir über Limitierungen reden: Manche dieser Songs scheinen auf seiner äusserst reduzierten Basis aufgebaut zu sein. Nehmen wir „Eminent Sleaze“. Da höre ich einen Groove, Händeklatschen, es klingt sehr ausgedünnt. Das ist diese Art Arrangement, bei der man das Gefühl hat, das wurde von einem Haus nur die Grundmauer stehen gelassen und dann sparsam wieder aufgebaut… Was haben wir hier? Das klingt wie ein Gegenentwurf zu diesen vollen Arrangements, diesem mehrgängigen Menüs, die manche Leute mit Progressive Rock assoziieren.

Du weisst ja, dass ich mich nie mit dieser Schublade Progressive-Rock-Musiker identifiziert habe. Es war für mich immer vollkommen uninteressant, ein musikalisches Genre zu bedienen. Du hast Peter Gabriels drittes Album erwähnt, das für mich eine Landmarke is , ein großartiges Beispiel dafür, wie sich jemand neu erfinden kann. Als jemand, der sich sein eigenes Genre erschafft, das Genre Peter Gabriel. So wie Frank Zappa, David Bowie oder, Kate Bush oder auch Stanley Kubrick. Das sind alles bedeutendere Künstler als ich, aber sie gehören eben genau solchen eifere ich nach. Die einzige Möglichkeit, sie zu kategorisieren ist, eine Kategorie zu schaffen, die nur jeweils ihnen allein gehört. Dahin will ich. Aber kommen wir zurück zu deiner Bemerkung über die Sparsamkeit der Produktion. Auf einer Ebene hast Du vollkommen recht, aber auf einer anderen Ebene ist gerade „Eminent Sleaze“ ein extrem komplexer Song, was die einzelnen Klangschichten betrifft. Es ist nicht einfach, aber es vermittelt diesen Eindruck, einfach und sparsam zu sein, vergleichbar mit „Intruder“ von Peter Gabriel, das aber eben in Wirklichkeit extrem sophisticated und komplex ist. Aber du hast recht, viele Songs auf diesem Album haben diese Qualität. „King Ghost“ ist ein weiteres Beispiel dafür. Auf der Oberfläche scheint sch da nicht allzu viel zu tun: Eine Drum-Maschine, ein paar Arpeggios vom Synthesizer und eben der Gesang. Aber darunter verbirgt sich eine ganze Menge Sound Design, wie ich es nennen würde, das wesensimmanent für eine ganze Menge dieser Songs ist.

Reden wir über „Personal Shopper“. Vordergründig erscheint das ja wie ein scharfe Kritik am Konsumverhalten der Menschen, aber Du hast viele sicher überrascht, als du gesagt hast, im Gegenteil, ich liebe es, zu konsumiere, Dinge zu kaufen. Das wiederum passt auch zu der Musik in Teilen dieses langen Songs. Das klingt so hell, so freundlich, es klingt wie Engelschöre, die dir allerhand schöne Dinge versprechen…

Ich sollte ja eigentlich nicht überrascht sein, dass viele Leute das negativ interpretieren, weil ich ja in der Vergangenheit immer wieder Songs über Dinge geschrieben habe, die ich ziemlich negativ sehe. Aber in diesem Fall: Nein! Wenn du dir die List der Konsumgüter anhörst, die Elton John in der Mitte des Songs vorliest, dann wirst du bemerken, dass da auch 180 Gramm Vinyl- Wiederveröffentlichungen dabei sind. Das ist meine Welt! Ich liebe dieses Zeug. Du siehst ja diese Wand von Vinyl hinter mir. Ich habe gedacht, die Menschen würden den Witz verstehen. Ich wollte den Leuten sagen: Ist es nicht ein Riesenspaß, zu konsumieren – aber ist es nicht auf der anderen Seite, wenn man das Ausmass betrachtet, in dem heute konsumiert wird, weniger schön? Hör zu, oh sorry… ich hab‘s wieder getan. Es gibt keinen Zweifel, das es eine sehr heimtückische Seite des Konsumverhaltens gibt. Inspiriert wurde der Song unter anderem von der Erkenntnis, dass es Algorithmen gibt, deren Aufgabe ist, uns dazu zu bringen, Dinge zu kaufen, die wir nicht brauchen. Das ist ganz offensichtlich eine der hinterhältigen Seiten des Internets. Dass wir durchgehend manipuliert werden von den mächtigsten Menschen auf der Erde. Und das sind nicht mehr die Politiker. Das sind die Menschen, die diese Algorithmen schreiben und die uns sagen, was wir kaufen sollen, was wir hören und glauben sollen. Das ist es, was mir Sorgen macht.

Elton John…. Wie bist Du an ihn gekommen? Hat er Dich gekannt?

Er kannte meinen Ruf. Er wusste, dass ich ein geachteter Musiker im Underground….., der abseits vom Mainstream arbeitet, bin. Das ist sehr schmeichelhaft. Das wunderbare an ihm ist, dass er sich immer noch sehr für Musik und Künstler interessiert, die nicht unbedingt zum Mainstream gehören. Es hat mich also sehr überrascht, dass er wusste, was ich mache und umso mehr, dass er es sehr spannend fand, mit mir zu arbeiten. Aber ich bin immer erstaunt, wenn ich merke, dass da draussen ein paar Leute sind, die wahrnehmen, was ich mache. Ich denke immer, ich wäre jemand, von dem die meisten Menschen noch nie etwas gehört haben. Ich sehe mich als eine Art typischen Kult-Künstler: Meine Fans kenne mich, meine Fans folgen mir, aber die Mainstream-Welt weiss noch nicht mal, dass es mich gibt.

FOTO COPYRIGHT LASSE HOLLE

Du hast einmal gesagt, du hättest erkannt, dass Personenkult ein großer Teil dessen ist, was Pop-und Rockmusik ausmacht. Nachdem du nun Alben gemacht hast, die sich auf klassischen Progressive-Rock beziehen, auf Konzeptalben und dergleichen, ist das jetzt möglicherweise dein erstes Popstar-Album?

Ich weiss nicht, was das Wort Popstar im Jahr 2020 bedeutet. Wenn ich über so etwas rede, dann aus einer historischen Perspektive heraus. Denn ich denke, die große Zeit der Popstars, der Ikonen, ist vorbei. Wenn du dir die wirklich erfolgreichen Künstler der heutigen Zeit anschaust, wirst du sehen: um diese Leute gibt es keinen Personenkult. Und wenn doch, dann ist es schon fast ein Kult der Unpersönlichkeit, da gibt es diese Andersartigkeit nicht mehr. Die Stars der 80er hatten das dagegen sehr ausgeprägt. Prince oder Michael Jackson oder Madonna – das waren alles Leute, bei denen man kaum glauben konnte, das sie zur gleichen Spezies gehören wie wir. Das mag lächerlich und absurd sein, aber es ist eben auch Magie. Was macht große Popmusik aus? Eben genau das! Und wenn ich schaue, was meine Kinder hören, stell ich fest, dass sie oft nicht wissen, wer der Künstler ist. Sie lieben einen Song und wollen den wieder und wieder hören, und dann fragen sie: Findest du den auf Youtube, und ich sage: Von wem ist das? Dann kommt als Antwort: Keine Ahnung, aber der Text geht so, und dann singen sie es mir vor. Das kommt mir vollkommen absurd vor, dass jemand total auf einen bestimmten Song abfährt und es ihm dabei vollkommen egal ist, wer der Künstler ist. Oder was seine Philosophie ist, woran er glaubt oder irgendein anderes Persönlichkeitsmerkmal. Ich, der ich in der Hochzeit der Pop-Ikonen aufgewachsen bin, finde das sehr befremdlich… aber wir sollten diesen Zeiten nicht nachtrauern. Es ist schliesslich nur eine Illusion, aber ich habe immer geglaubt, dass die der Musik eine zusätzliche magische Qualität verleiht. Ich weiß auch nicht, ob jemand wie ich überhaupt ein Popstar sein könnte. Ich bin zu alt. Und selbst wenn meine Musik oberflächlich betrachtet leicht zugänglich erscheint, hat sie immer etwas, das genau das verhindert.

Wenn du auf die ganze Musik zurückschaust, die du über 30 Jahre oder mehr gemacht hast, hast du dann das Gefühl, dass du erst jetzt etwas erreicht hast, was man „Reife“ nennt? Oder ist das ein falsche Vorstellung von der Entwicklung eines Künstlers über einen lange Zeitspanne?

Ich finde es faszinierend, dass ich mich immer noch als Lernenden sehe. Um bessere, interessantere Platten zu machen, die mehr das reflektieren, was ich als Künstler sein möchte. Wenn ich mir die Musik der meisten Künstler anschaue, die ich wirklich verehre – bis ganz weit zurück in die Musikgeschichte, bis in die 60er Jahre -, dann haben die meisten von ihnen ihre wirklich großartigen Arbeiten abgeliefert, als sie zwischen 20 und 30 Jahre alt waren. Und wenn ich dann meine Sachen anschaue, die ich in diesem Alter gemacht habe, muss ich sagen: Sie sind grauenhaft. Dann denke ich mir: Okay, ich habe in meinen Dreissigern die ersten guten Platten gemacht und ich werde noch besser. Zumindest mache ich jetzt mehr durchgehend gute Platten als in meinen Zwanzigern. Und ich habe mich oft gefragt, warum das wohl so ist. Warum ich in fortgeschrittenem Alter erst die Platten mach, die Experimente wagen. Kürzlich habe ich mich mit jemandem über die Frage unterhalten, wo eigentlich die Protestsongs der jungen Generation sind. Die Welt ist der derzeit komplett am Arsch und man sollte doch eigentlich glauben, dass es eine perfekte Zeit für eine jüngere Musikergeneration wäre, wirklich wütende Protestmusik zu schreiben. Aber wo ist sie? Vielleicht im Underground? Im Mainstream sehe ich nichts. Gut, es gibt die alten Hasen wie Neil Young oder Bob Dylan, die wütende Musik machen. Obwohl, wenn wir über Protestsongs sprechen: einen gab es vor einigen Jahren: „This is America“ von Childish Gambino. Das ist allerdings keiner, bei dem man um ein Lagerfeuer sitzt und zur akustischen Gitarre singt. Es ist ein grossartiger, sehr wütender Song über das moderne Leben mit einem phänomenalen Video dazu. Aber man kann einfach nicht mitsingen. Also, es gibt immer eine Ausnahme. Und es kommt halt nicht so rüber wie die alten Männer, die die Wolken anschreien.

Weibliche Künstler seien mehr interessiert an Musik, die nicht so sehr einem Genre verhaftet ist. Die These hast Du in einem Gespräch mit der großartigen norwegischen Sängerin Kari Bremnes vertreten. Du hast einige Beispiele erwähnt, unter anderem Björk und Kate Bush. Die sind aber alle schon älter. Wie sieht es mit den jungen Frauen aus, die deine These belegen könnten?

Ich halte ziemlich viel von Billy Eilish. Sie ist unglaublich jung, sie entspricht nicht unbedingt meiner Vorstellung von einem Popstar, aber ich war auf jeden Fall vom Klang ihrer Platten fasziniert und ich habe mir sehr genau einige der Ideen angehört, die in ihren Produktionen stecken. Der Klang solcher Platten inspiriert mich durchaus. Und es ist auch interessant, wenn jemand wie sie ganz massiv in den Mainstream einbricht, denn sie ist kein offensichtlicher moderner Popstar, sie hat kein glamouröses Image. Sie sieht eher aus wie die Kids, die vielleicht ihre Musik hören.

Und die sonstige aktuelle Mainstream-Popmusik, kannst Du der was abgewinnen?

Ich wollte ja nie wie mein Vater werden, niemals sagen: „Das was du da hörst, ist keine richtige Musik!“ Aber in gewisser Weise bin ich so geworden, denn ich verstehe eine ganze Menge moderner Popmusik überhaupt nicht. Vieles klingt für mich, als wäre es von einem Computer-Algorithmus komponiert worden. Es ist unmusikalisch, es geht nur um die Stimme und selbst die klingt künstlich wie ein singender Roboter. Dazu finde ich einfach keinen Zugang. Aber ich bin sicher, es gibt da draussen sehr viele interessante Künstler, nur wird man nicht viele davon im Herzen des Mainstreams finden. Das hat sich geändert seit den Tagen von Kate Bush oder Björk. Denn die gehörten zu Mainstream.

Zurück zu deiner Fanbase, die offenbar bereit ist, die Kehrtwendungen des Künstlers mitzumachen, nachzuvollziehen. Du hast dir ja über all diese Jahre offenbar solche treuen Fans geschaffen. Vielleicht ist diese Frage jetzt etwas beleidigend, aber dennoch: Versuchst du, unterbewusst, deine Fans zu erziehen?

Ich denke, erziehen ist nicht das richtige Wort…..

Ich habe nach einem anderen gesucht, aber keins gefunden….

Erziehen würde Bevormundung implizieren. Nach dem Motto: Ich verfüge über ein Wissen, das ihr nicht habt. Meine Karriere habe ich ziemlich egoistisch und selbstbewusst aufgebaut und hatte dabei das große Glück, sie am Laufen halten zu können, während ich die Erwartungen meines Publikums ständig unterlaufen habe. Ich kann das Glück, dass ich in dieser Hinsicht habe, garnicht hoch genug schätzen. Sagen wir so: ich nehme es fast als Auszeichnung, wenn ich manche Fans richtiggehend verärgere, weil ich plötzlich etwas ganz anderes mache. Das sagt mir, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Erziehen? Nein, das ist es nicht. Mir gefällt die Vorstellung, dass einige Menschen sich Musik anhören, die sie sich normalerweise nicht anhören würden. So wie etwa Beatles-Fans sich schliesslich Musique Concrète anhörten – bei „Revolution No. 9“, oder Frank Zappa-Fans irgendwann dann avantgardistische klassische Musik gehört haben. Für mich wäre die naheliegendste Analogie Radiohead. Von gitarrenorientiertem Arena-Rock hin zu etwas viel experimentierfreudigerem, elektronischen. Dabei haben sie zumindest die Mehrheit ihres Publikums mitgenommen. Meine Hoffnung ist, dass die Menschen zumindest dein Recht auf Veränderung respektieren, weil sie eine gewisse Loyalität dir gegenüber haben, weil sie Dir vertrauen und das zu deinen Gunsten auslegen und sich dann eben etwas anhören, was sie normalerweise nicht hören würden. Ich habe aber auch Verständnis dafür, wenn jemand danach sagt: „Ich mag das nicht, das ist nichts für mich…“

Dann interpretiere ich das mal so – mit anderen Worten: Du versuchst, die Menschen mit sanftem Druck dahin zu bringen, sich für etwas anderes zu öffnen….

Ja, das hoffe ich. Es gibt immer noch Metalfans, die meine Musik hören. Ich habe mehr als zehn Jahre lang nichts mehr gemacht, was auch nur im entferntesten etwas mit Metal zu tun hätte, aber ich sehe diese Leute immer noch zu meinen Shows kommen….

vielleicht weil sie hoffen, du würdest wieder mal was in die Richtung machen?

Da magst du teilweise Recht haben. Vielleicht hoffen sie, dass ich die Zeit zurückdrehe. Aber ich glaube auch, es gibt dies Loyalität: Sie haben offenbar eine Tür zu meiner Welt gefunden und geöffnet. Und dieser Zugang kam vielleicht über die Metal-Seite meines Materials. Das gleiche gilt für Leute, die über den klassischen progressiven Rocksound zu meiner Musik gefunden haben. Jetzt habe ich sie in meinem Universum eingefangen und kann sie ein bisschen herumkommandieren. Also: Das ist Musik, die ihr normal nicht hört, aber wenn ihr mich mögt und mich respektiert, vielleicht gebt ihr ihr eine Chance. Das kann manchmal durchaus passieren!